Gedenken und Politik: Bericht zum Besuch in Belarus, 30. 9. – 7. 10. 2023

Eine Reise nach Belarus ist kein alltägliches Unterfangen und recht kompliziert geworden – dennoch nahmen 10 Studierende und Roma-Aktivist:innen aus Deutschland vom 30. 9. bis 7. 10. an einem Austauschprogramm in Belarus teil. Unsere dortige Partnerorganisation, die Belarusische Roma-Diaspora (die größte Selbstorganisation der Minderheit in Belarus) hatte ein umfangreiches Programm zusammengestellt. Hauptthema waren dabei die Erinnerung an den Roma-Genozid während des Zweiten Weltkrieges und die Situation von Roma in Belarus heute.

Vorbemerkung:

Die politischen Verhältnisse in Belarus haben selbstverständlich erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen. Wir sind uns dieser Verhältnisse sehr wohl bewusst. Das findet seinen Niederschlag auch in diesem Bericht, in dem wir aus Rücksicht auf unsere Partner:innen in Belarus auf die Wiedergabe bestimmter Einschätzungen und Eindrücke verzichten. Dies ist Teil des Problems, in Belarus zu arbeiten – solange unsere belarusischen Partner:innen aber aussagen, dass ihnen die Zusammenarbeit unterm Strich einen Nutzen bringt, weil es ihnen hilft, Diskriminierung zurückzudrängen, halten wir an solchen Projekten fest.

Am Anfang stand der Besuch des „Staatlichen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ in Minsk auf dem Programm. Es verdeutlicht die offizielle Deutung der Weltkriegsgeschichte. Seine prägenden Elemente sind zum einen die Ausstellung von Militärgerät, zum anderen eine emotionalisierende Darstellung der heroischen Haltung, die die ganze sowjetische Gesellschaft, also Zivilbevölkerung, Partisanen und Rote Armee, im Kampf gegen die Wehrmacht gezeigt habe. Die Vermittlung von Wissen tritt erkennbar hinter die Vermittlung einer „Haltung“ zurück. Dieser Ansatz findet sich auch in anderen Ausprägungen der (offiziösen) belarusischen Erinnerungspolitik.

Roma als Opfergruppe werden im Museum nicht erwähnt.

Abends hielt der belarusische Historiker Aleksander Dalhousky (Geschichtswerkstatt Minsk) über Zoom einen Vortrag, in dem er den Stand der Forschung zum Roma-Genozid in Belarus zusammenfasste. Lebhafte Diskussionen entspannen sich zur Frage, welche Motive der Vernichtungsabsicht der deutschen Besatzer zugrunde lagen. Haben sie Roma vorwiegend wegen des Verdachts auf Partisanenzugehörigkeit oder wegen ihrer angeblichen „Asozialität“ ermordet, oder folgten sie den auch im Reichsgebiet geltenden Rassenideologie? Wurden, wie es in manchen deutschen Befehlen hieß, eher nomadisch lebende Roma ermordet und weniger die sesshaften?

Einigkeit bestand schließlich darin, dass der Stand der Forschung die Aussage, sesshaft lebende Roma seien verschont geblieben, nicht zulässt. Vielmehr sind, ähnlich wie in der besetzten Ukraine, zahlreiche Ermordungen sesshafter Roma bekannt.

Am zweiten Tag wurde eine kleine, von der Roma-Diaspora selbst mitentwickelte Gedenkstätte besucht: Ein Gedenkkreuz nahe des ehemaligen KZ Koldytschewo, wo mehrere Hundert Roma erschossen wurden. Es steht inmitten eines Waldstückes und lädt durch seine Gestaltung zur Besinnung ein. Am Waldrand, an einer Landstraße, steht ein weiteres, größeres Denkmal, an dem auf Belarusisch, Polnisch und Romanes an die Morde erinnert wird. Es ist eines von nur drei Denkmälern in Belarus, die explizit Roma als Opfergruppe gewidmet sind.

Der dritte Tag begann mit dem Besuch der Gedenkstätte des Zwangsarbeitslagers Maly Trostenez am Stadtrand von Minsk, einschließlich der Erschießungsstätte Blagowschtschina. Auch hier zeigen sich die Auswirkungen der staatlichen Geschichtspolitik. So sind Führungen nur durch Personen zulässig, die vom Staat lizenziert sind und die vom Staat vorgegebenen Informationen vermitteln müssen. In Hinblick auf die Opferzahlen an diesem historischen Ort zeigt sich der politische Einfluss: Über Jahrzehnte hinweg wurde die von der Außerordentlichen Sowjetischen Kommission ermittelte Zahl von 206.500 Toten übernommen. Unabhängige Forscher:innen halten diese Zahl für stark überhöht und gehen, wie etwa Christian Gerlach, eher von 60.000 Ermordeten aus. Die belarusische Generalstaatsanwaltschaft hat im Rahmen vorgeblicher neuer Ermittlungen nunmehr aber eine Opferzahl von weit über 500.000 angegeben. (Siehe hierzu auch die Einführung einer Ausstellung der Geschichtswerkstatt Minsk: https://trostenez.org/ausstellung/#einleitung.) Die Motive des Staates werden in einschlägigen Unterrichtsmaterialien deutlich: Aufgrund der neuen Zahlen wird behauptet, das Lager Trostenez stehe „auf einer Stufe mit anderen Massenvernichtungsorten“ wie Auschwitz (https://adu.by/images/2023/10/Genozid-bel-naroda-1-4-klass.pdf).

Am vierten Tag wurde die Allerheiligen-Kirche besucht (http://hramvs.by/). In einer Krypta wird Erde von Orten, an denen es Massenmorde oder andere Opfer gab, aufbewahrt. Faktisch handelt es sich um eine Zusammenstellung von Kriegsopfern, Opfern von Katastrophen und terroristischen Anschlägen; auch hier sind die Informationen sehr spärlich. Unser belarusischer Partner steht in Gesprächen mit der Leitung, auch Roma als Opfergruppe zu erwähnen.

Das mit der Kirche verbundene staatliche „Belarusische Zentrum der geistigen Wiedergeburt“ (https://www.zdv.by/de) präsentierte während unseres Besuches einen Film über den Vernichtungsort Maly Trostenez. Auch dieser Film ist stark emotionalisierend und enthält wenig Informationen über die Geschehnisse. Es wird darin die „neue“ Zahl von 546.000 Opfern genannt. In der Schlusssequenz des Films wird erwähnt, dass auch Roma den deutschen Besatzern zum Opfer gefallen sind. Im anschließenden Gespräch mit dem Direktor des Zentrums wurden die negativen Folgen staatlicher Vorgaben für die Geschichtspolitik von der deutschen Projektleitung kritisch angesprochen.

Am frühen Nachmittag wurde in der Mascherow-Mittelschule die Ausstellung zum Roma-Genozid präsentiert, im Beisein von rund 40 Schüler:innen. Die Mascherow-Schule hatte bereits im Frühjahr das von unserem Projekt entwickelte didaktische Material zum Roma-Genozid übernommen, als erste Schule in Belarus (http://gwminsk.com/de/praesentation-des-informationsmaterials-der- voelkermord-den-roma-belarus-1941-1944). Im Laufe des Ausstellungszeitraums wurden mehrere Schulklassen mit der Ausstellung vertraut gemacht.

Im anschließenden Gespräch mit dem Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Minsk und der Sachbearbeiterin Kultur dort wurden unter anderem die verbliebenen Möglichkeiten menschenrechtlicher und erinnerungspolitischer Arbeit in Belarus besprochen. Vorgabe sowohl für die Botschaft als auch für vom deutschen Auswärtigen Amt kofinanzierte Projekte wie unseres ist, die Zusammenarbeit mit Behörden auf höherer Ebene möglichst zu vermeiden. Auf lokaler Ebene ist dies, wie beispielsweise bei Ausstellungseröffnungen in Museen oder Bibliotheken, natürlich nicht immer möglich. Es bleibt eine ständige Herausforderung, die gemeinsamen Anliegen der deutschen und belarusischen zivilgesellschaftlichen Partner umzusetzen, und sich dabei einer Instrumentalisierung durch den Staat Regime möglichst zu entziehen.

Abends gab es ein ausführliches Gespräch mit mehreren Angehörigen der Roma-Minderheit über ihre Diskriminierungserfahrungen. Es gebe zwar keine Hassverbrechen und Gewalttaten gegen Roma, wurde berichtet, aber Alltagsrassismus in vielfacher Ausprägung. Dieser führt etwa dazu, dass Roma häufig ihre Identität verbergen. Fast jede:r unserer Gesprächspartner:innen berichtete, sich schon mehrfach, etwa bei Bewerbungsgesprächen für eine Arbeitsstelle, als „Armenierin“ oder „Georgier“ ausgegeben zu haben, oder angebliche italienische oder spanische Vorfahren zu erfinden, um die dunklere Hautfarbe oder einen ungewöhnlichen Vornamen zu erklären. Wenn Roma in angeseheneren Berufen, etwa in einer Klinik, arbeiten, sehen sie sich auch dort Anfeindungen ausgesetzt, weil sie angeblich dort nicht „hineinpassen“.

Am fünften Tag wurden Ljubow Muradinskaja und Sergej Muradinskij besucht. Ljubow wurde 1944 im KZ Auschwitz geboren, ihr Vater war laut Familienüberlieferung ein französischer Wachmann (oder Kapo, diese Information ist nicht gesichert). Im Gespräch betonte sie mit Nachdruck, wie sehr es sie anrührt, dass ihre Geschichte in die vom Projekt gestaltete Ausstellung eingeflossen ist und sie mehrfach Gelegenheit hatte, an Ausstellungseröffnungen zu sprechen.

Der sechste Tag galt dem Besuch der Gedenkstätte Chatyn (https://khatyn.by/en/). Bei der Gedenkstätte selbst handelt es sich um ein weitläufiges Areal auf dem Gelände des zerstörten Dorfes Chatyn, das allen von den deutschen Besatzern und deren Helfershelfern zerstörten Dörfern und deren ermordeten Einwohner:innen gewidmet ist. Seine Gestaltung verzichtet auf ausführliche Informationen, vermittelt aber eine Atmosphäre des Gedenkens und der Besinnung. Seit Frühjahr 2023 gibt es zusätzlich ein Ausstellungsgebäude, in dem die Paradigmen staatlicher Geschichtspolitik in besonders deutlicher Weise hervortreten. Es ist geprägt von emotionalisierender Überwältigung. Die Besucher:innen folgen einer Blutspur auf dem Boden und werden unter anderem mit Videoeinspielungen von Kindern konfrontiert, die von ihrem Vernichtungsschicksal berichten. Am Ende der Führung befinden sich die Besucher:innen in einem Raum, der eine Scheune nachstellt, in der damals fast alle Bewohner:innen von Chatyn verbrannt wurden. Über Lichtimpulse werden brennende Wände imitiert, die Temperatur im Raum ist erhöht – um, wie es vom Guide dargestellt wird, das Schicksal der Einwohner:innen „nachempfinden“ zu können. Die Ausstellung enthält äußerst wenig Informationen über die Vorgänge in Chatyn, und kaum Kontextualisierung in die deutsche Besatzungspolitik. Im letzten Raum wird die Erinnerung an den deutschen Überfall sowie die Abwehr gegenwärtiger Bedrohungen thematisiert – unter anderem mit einem von der Generalstaatsanwaltschaft herausgegebenen Buch, das auf dem Cover und im Inhalt die Nazi-Herrschaft im Zweiten Weltkrieg mit den Protesten des Sommers 2020 parallelisiert (https://adu.by/images/2022/08/Genocide-belorusskogo-naroda.pdf). Dies entspricht der auch in anderen Zusammenhängen anzutreffenden Strategie des belarusischen Regimes, die Niederschlagung der Protestbewegung mit der Behauptung zu legitimieren, diese stehe in der Tradition von Nazi-Kollaborateuren.

In einer Auswertungsrunde mit den belarusischen Partnern wurde diese Gestaltung sehr kontrovers diskutiert: Während die deutschen Teilnehmer:innen den Überwältigungsansatz und das Fehlen von Informationen monierten, sahen die meisten belarusischen Teilnehmer:innen darin einen Zugang zur Geschichte, der das Interesse, sich tiefer damit zu beschäftigen, anspornen könne.

Am siebten und letzten Tag des Aufenthaltes in Belarus wurden zwei Orte von Massenerschießungen von Roma besucht. Nahe der Ortschaft Nowosyady befindet sich eine Gedenkstätte, die an den Mord an 44 Roma und einem Juden erinnert. Die Gedenkstätte ist maßgeblich von der Überlebenden Galina Aleksandrowitsch gestaltet worden. Sie verzichtet allerdings auf die namentliche Erwähnung von Roma als Opfergruppe und nutzt die abstrahierte Formulierung von zivilen „Opfern des Faschismus“. Der zweite Gedenkort befindet sich nahe der Stadt Ostrowiez. Dort wurde im Rahmen neuer Untersuchungen der Staatsanwaltschaft ein Grab ausgehoben, in dem sich die sterblichen Überreste von sechs Personen befanden, bei denen es sich der Staatsanwaltschaft zufolge um Roma handelte, die von den Deutschen erschossen worden seien. Im Frühjahr 2023 wurde das Grab zu einer kleinen Gedenkstätte gestaltet. Bei unserem Besuch hatten wir allerdings den Eindruck, dass hier nicht akkurat vorgegangen wird: Auf dem Kreuz befand sich die Inschrift „Den friedlichen Bürgern“, ein zugehöriges Schild, das Roma als Opfergruppe ausdrücklich erwähnte, enthielt als Illustrierung ein Foto der Gedenkstätte „Jama“ in Minsk – also einem Ort, der an die jüdischen Opfer des Minsker Ghettos erinnert. Auf unsere Nachfrage erklärte eine anwesende Vertreterin der örtlichen Verwaltung, die Gedenkstätte werde noch überarbeitet.

Staat strebt nach Deutungshoheit

Generell wurde an allen drei Gedenkorten für die Opfergruppe von Roma, die wir besucht haben, die Präsenz des Staates und seiner Geschichtspolitik deutlich. An der Gedenkstätte in Kaldytschewo, bei Nowosyadi und bei Ostrawiez wurden, mutmaßlich im Jahr 2022, kleine Tafeln montiert, die QR-Codes zu weiterführenden Informationen bzw. zu den initiierenden Organisationen enthalten.

Dabei handelt es sich beispielsweise um das Projekt „Digitaler Stern“ (https://izvezda.by), das von der Belarusischen Jugendunion (BSRM, https://brsm.by) getragen wird. Diese quasi-staatliche Massenorganisation in der Tradition des sowjetischen Komsomol beschreibt ihre Tätigkeit selbst als „historisch-patriotisches“ Unterfangen.

Eine andere Organisation, die mittels QR-Codes an Orten des Gedenkens an die NS-Verbrechen Präsenz zeigt, ist „Patrioty Belarusi“ (http://patriots.by/), die es als ihre Aufgabe beschreibt, durch die Erinnerung an NS-Verbrechen „Patriotismus“ zu wecken und zu zeigen, dass die belarusische Bevölkerung „ein vereintes Volk“ sei. Die Organisation gibt an, es seien im Jahr 2022 in ganz Belarus 1062 Schilder mit QR-Codes aufgestellt worden (http://patriots.by/deyatelnost/sohranim-istoriu/).

Diese Projekte gehören zum übergreifenden Projekt „Save History“ (https://savehistory.by/), das die Informationen zu den über 40.000 Weltkriegs-Denkmälern in Belarus digitalisiert zusammenfassen will. Finanziert wird es vom Staat. Auf einer Karte sind Gedenkstätten verzeichnet, exemplarisch sei auf die Roma-Gedenkstätte nahe des eh. KZ Kolditschewo verwiesen, die fälschlich als „einzige“ derartige Gedenkstätte für Roma in den Ländern der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ bezeichnet wird (https://www.savehistory.by/karta/bratskaya-mogila-pogorelets/). Bei der näheren Erörterung finden sich interessante und wertvolle Stellungnahmen, aber auch die Aussage des Vorsitzenden der Roma-Diaspora, es habe nur ein Prozent der Roma überlebt (https://www.savehistory.by/karta/bratskaya-mogila-pogorelets/), was vom Forschungsstand absolut nicht gedeckt ist (die Aussage wird auch an anderer Stelle getroffen: https://izvezda.by/ru/monuments-ru/getElement/6303).

Die Bewertung dieser Maßnahmen ist kompliziert. Selbstverständlich ist es zu begrüßen, wenn Informationen digitalisiert und auch Roma als Opfergruppe ausdrücklich erwähnt werden, und so mit der tradierten, abstrahierenden sowjetischen Erzählung von ermordeten „friedlichen Bürgern“ gebrochen wird. Und selbstverständlich ist zu begrüßen, dass bei Ostrowiez eine Gedenkstätte für ermordete Roma geschaffen wurde, auch wenn ihre Gestaltung höchst fragwürdig ist. Zugleich ist es hochproblematisch, dass die neueren Forschungsarbeiten der belarusischen Staatsanwaltschaft übertragen werden, und nicht fachkundigen und unabhängigen Historiker:innen. Nach unserer Einschätzung zeugt dies vom Bestreben des Staates, ebenso wie mit den QR-Codes, die Deutungshoheit über die Gedenkstätten zu bewahren und abweichende Deutungen, wie sie zivilgesellschaftliche Initiativen formulieren könnten, zu überdecken.

Uns ist diese Problematik sehr wohl bewusst, und es ist eine ständige Herausforderung für uns, angesichts der politischen Zustände in Belarus unsere eigene Position zu bestimmen. Auch etwaige Bemühungen aus Deutschland, sich möglicherweise an Denkmalprojekten zu beteiligen, werden sich mit der Instrumentalisierung der Geschichte durch den belarusischen Staat auseinandersetzen müssen. Für uns steht dennoch fest, dass wir mit unseren belarusischen Partnern weiterhin zusammenarbeiten wollen, auch in Form solcher Austauschprogramme. Für 2024 streben wir wiederum an, eine Delegation belarusischer Roma in Deutschland empfangen zu können und am 2. August gemeinsam am Gedenken in Auschwitz teilzunehmen.