Bericht zur Recherchereise, Mai/Juni 2019

Lebende Erinnerung vs. ignorierter Genozid.

So viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wie möglich zu interviewen – das war Ziel unserer Recherche, die wir im Mai und Juni 2019 durchführten. Vorbereitet wurde sie von unserem Partner Artur Gomonow, der Vizedirektor der Belarussischen Roma-Diaspora ist, der mit Abstand größten und (fast) flächendeckend vertretenen Rom:nja-Organisation in Weißrussland. Mit Artur hatten wir im März 2019 bei einem Vorgespräch das Projekt durchgesprochen, und seither war er dabei, Interviewpartner:innen für uns ausfindig zu machen.

Am 20. Mai ging es dann schließlich los. Vor uns standen mehrere Wochen mit voraussichtlich mehreren Tausend Straßenkilometern. Unser Team bestand in der Regel aus fünf Personen: Artur Gomonow, ein Fahrer, ein/e Dolmetscherin, und zwei Mitglieder unseres Bildungswerkes. Außerdem musste Gepäck (für Übernachtungen unterwegs) und die Kameraausrüstung mitgenommen werden. Ja, es war eng im Auto…

Uns kam zugute, dass Artur nicht nur in den Rom:nja-Communities in Weißrussland außerordentlich gut vernetzt ist, sondern dass er Anfang des Jahrtausends den Auftrag hatte, Entschädigungsgelder, die damals über die Versöhnungs-Stiftungen liefen, an Überlebende des NS-Terrors unter den Rom;nja zu verteilen. Dadurch kannte er bereits die Namen und Wohnorte zahlreicher potentieller Interviewpartner:innen.

Seine Hauptaufgabe bestand darin, herauszufinden, ob sie noch am Leben sind, ob sie noch am gleichen Ort wohnen, ob sie gesund genug und überhaupt Willens sind, uns zu empfangen. Dabei waren ihm zahlreiche Kontakte vor Ort hilfreich, die ihm auch Telefonnummern besorgten. Schon bei dieser Vor-Recherche zeichnete sich ab, dass wir nur noch wenig „echte“ Zeitzeug:innen werden treffen können, die sich noch an die Kriegszeit erinnern, und wir häufig mit ihren Kindern oder Geschwistern sprechen werden. Wie sich zeigte, waren diese aber außerordentlich gut informiert.

Tausende von Kilometern, Dutzende von Interviews

Die Recherche führte uns im Prinzip durch ganz Weißrussland, wobei wir manche Orte, wie etwa Gomel, mehrfach ansteuerten, weil manche Interiewpartner:innen beim ersten Mal kurzfristig abgesagt hatten, oder verreist oder im Krankenhaus waren.

Verfügen nur wenige unserer InterviewparnterInnen über Fotos
Leider verfügen nur wenige unserer Interviewparnter:innen über Fotos ihrer Vorfahren, die oftmals nomadisch lebten. Sofern sie jemals Fotos gemacht hatten, gingen diese häufig auf der Flucht verloren

Insgesamt stießen wir auf XX Zeitzeug:innen bzw. deren Angehörige. Ohnehin waren fast immer nahe Angehörige bei den Zeitzeug:innen zugegen. Das war uns schon deswegen wichtig, weil wir damit rechnen mussten, dass die Zeitzeug:innen durch das Reden über ihre Verfolgungserfahrungen retraumatisiert würden, und wir wollten sicherstellen, dass sie anschließend nicht alleine zu Hause mit ihrer Trauer sitzen müssen. Auch bei der Interviewführung haben wir darauf geachtet, das Interview nicht am Tag der Befreiung enden zu lassen, sondern uns selbstverständlich auch über den Lebensverlauf bis in die Gegenwart hinein erkundigt und versucht, das Gespräch bei einem weniger traurigen Erlebnis enden zu lassen.

Auch hier war von großer Bedeutung, dass Artur dabei war, oder zusätzlich ein:e Vertreter:in lokaler Rom:nja-NGOs, die die Zeitzeug:innen persönlich kannten.

Die Interviews selbst wurden von den deutschen Teilnehmer:innen geführt, jeweils mit Übersetzung ins Russische. Bei manchen älteren Interviewpartner:innen ergänzte Artur Übersetzungen ins Romanes. Sämtliche Interviews wurden auf Video aufgenommen.

Es ist uns nie passiert, dass Interviewpartner:innen das Gespräch abgelehnt oder abgebrochen haben. Einmal gab es eine Situation, in der ein Zeitzeuge offenbar nicht realisiert (oder wieder vergessen) hatte, dass Interviewer und Kamerafrau Deutsche sind.

Zeitzeugin Nadeschda Konstantinowna Rudkowskaja (Bobruisk)
Zeitzeugin Nadeschda Konstantinowna Rudkowskaja (Bobruisk) weist uns den Weg zu einem Ort, an dem während ihrer Kindheit Rom:nja eingesperrt waren

Als er (erneut) darauf hingewiesen wurde, rief er hörbar erschrocken aus, die Deutschen sollten das Haus verlassen. Das Interview wurde dann unterbrochen, Artur gelang es, dem Zeitzeugen mit Hilfe dessen Ehefrau zu vermitteln, dass „diese“ Deutschen ein freundliches Interesse an ihm hätten, der Zeitzeuge willigte dann in die Fortsetzung des Interviews ein. Im Folgenden forderte er seine Ehefrau mehrfach auf, die Gäste zu bewirten. Die Verständigung wurde dann nach dem Interview mit einem reichhaltigen Buffet und einigen Gläsern Wodka besiegelt.

Lebende Erinnerung in den Familien – aber Ignoranz durch die Mehrheitsgesellschaft

Immer wieder konnten wir feststellen, dass die Angehörigen der Zeitzeug:innen die Interviews mit weiteren Informationen angereichert haben. Daran zeigte sich, dass das Thema des Genozids in den Familien der Betroffenen immer eine große Rolle gespielt hatte.

Exemplarisch schilderte uns das gleich an einem der ersten Interview Tage Wiktor Muratschkowksi in Njaswisch: Er berichtete, dass auf buchstäblich jedem Familienfest ein Onkel von ihm ein bestimmtes Lied sang, dessen Bedeutung allen Familienmitgliedern bekannt war: Es handelte sich um ein Lied, das er im Angesicht eines deutschen Erschießungskommandos gesungen hatte. Ein deutscher Soldat hatte ihn dazu aufgefordert, und „zur Belohnung“ durfte der Onkel selbst und seine Frau die Erschießungsstätte verlassen. Mag sein, dass wir hier einem Phänomen begegneten, das in der Literatur als „Romantisierung“ des Erinnerns bezeichnet wird, gleichwohl macht diese Erzählung deutlich: In den Roma-Familien weiß man bis heute sehr genau, dass die Deutschen Jagd auf Rom:nja gemacht haben. Der Stellenwert dieser Erinnerung innerhalb der Roma-Familien kontrastiert damit eklatant vom Stellenwert der Erinnerung in der Mehrheitsgesellschaft. Dazu passt, leider, dass sämtliche Interviewpartner:innen angaben, noch nie von jemandem außerhalb der Rom:nja-Community zu ihren Erinnerungen befragt worden zu sein. Dass der historische Forschungsstand in Weißrussland zum Genozid an Rom:nja noch sehr im Argen liegt, war uns schon vorher bekannt.

Dieses Denkmal ist eines der wenigen in Weißrussland, das sie als einzelne Opfergruppe erwähnt.
Auch die Besichtigung von Gedenkstätten gehörte zur Recherche, wie auch zum Programm der Exkursion. In der Nähe von Baranowitschi wurden mehrere Hundert Rom:nja erschossen. Dieses Denkmal ist eines der wenigen in Weißrussland, das sie als einzelne Opfergruppe erwähnt.

Dennoch waren wir überrascht, als wir in Schodina eine 1937 geborene Frau interviewten: Sie ist eine Überlebende des Massakers an der Roma-Kolchose in Aleksandrowka (Russland).

Dieses Massaker gehört zu den wenigen gut dokumentierten Massenverbrechen an Rom:nja in der besetzten Sowjetunion, aber auch diese Überlebende wurde noch niemals interviewt.

Es war für uns mitunter schon beschämend, wenn sich die Rom:nja bei uns für unser Interesse bedankten. Manchen von ihnen war nicht ganz klar, worin genau unser Interesse eigentlich besteht. Artur fasste das später in den Worten zusammen: „Früher kamen die Deutschen, um uns umzubringen, und jetzt kommen sie, damit wir ihnen erzählen, wie sie uns früher umgebracht haben.

Was ist mit denen eigentlich los“? Dieses Unverständnis mag zugleich daher rühren, dass auch im eigenen Land niemand außerhalb ihrer Familien bislang ein Interesse an ihren Erinnerungen aus der Kriegszeit hatte. Uns bestärkte das in der Notwendigkeit unseres Projektes: Es ging darum, die Erinnerungen der letzten Zeitzeug:innen aufzuzeichnen, ehe es überhaupt keine Changce mehr gibt, diese Geschichte auch aus der Opferperspektive heraus zu erzählen.

Partisanenkampf als Überlebensmöglichkeit

Aber was heißt „Opferperspektive“? Natürlich wurden Rom:nja zu Tausenden Opfer der Deutschen, aber unsere Interviewpartner:innen legten großen Wert darauf zu betonen: Rom:nja waren nicht passiv, sie haben nicht stillgehalten, sondern sie haben gekämpft. Stolz wurde von Vätern, Onkeln, Brüdern, aber auch Müttern berichtet, die bei den Partisan;innen gekämpft haben.

Jener Onkel habe ein halbes Dutzend Züge in die Luft gesprengt, dieser deutsche Soldaten und einheimische Kollaborateure erschossen. Wer nicht selbst mit der Waffe in der Hand kämpfen konnte, überlebte durch den Schutz der Partisan:innen, in Familienlagern. Im Gegenzug wurden die Partisan:innen mit Informationen und Nahrungsmitteln versorgt.

Beinahe jede:r Interviewpartner:in betonte, das Überleben während der deutschen Besetzung sei den Partisan:innen zu verdanken.

n der Sowjetunion wurde in amtlichen Dokumenten die ethnische Zugehörigkeit der Inhaber vermerkt
In der Sowjetunion wurde in amtlichen Dokumenten die ethnische Zugehörigkeit („Nationalität“) der Inhaber vermerkt, hier der Wehrpass aus dem Jahr 1963 eines Mannes, der als Rom erfasst wird („Zygan“, unter Punkt 2 auf der rechten Seite).

Das mag auch daran liegen, dass die meisten der Interviewpartner:innen vor dem Krieg ein nomadisches bzw. seminomadisches Leben führten, von daher Fähigkeiten mit sich brachten, die für Partisan:innen von Bedeutung waren (Kenntnisse im Umgang mit Pferden, mit dem Erkennen von Fährten, „sie kannten den Wald“, hieß es mitunter von den Interviewpartner:innen).

Wir sehen hierin einen wichtigen Anknüpfungspunkt, um das Thema des Rom:nja-Genozids in der weißrussischen Erinnerungspolitik zu verankern, hat doch die Partisanenbewegung nach wie vor einen extrem hohen Stellenwert.

Für Historiker:innen wäre es sicherlich ein wichtiges Unterfangen, der Rolle der Rom:nja in der Partisanenbewegung genauer nachzugehen. Auch wenn die Erzählungen immer unterschiedlich waren, schälte sich als eine Art Roter Faden heraus, dass die Überlebenden damals sehr wohl wussten, welche Gefahr von den Deutschen ausging – allerdings häufig erst, nachdem sie Berichte gehört hatten, dass die Deutschen hier und dort ganze Roma-Lager (Tabors) ermordet hatten. Mit dem Tabor auf Deutsche zu stoßen und diese Begegnung zu überleben, war – so unser Eindruck aus den Erzählungen – praktisch nicht möglich. Hingegen konnten sesshafte Rom:nja in Dörfern und Städten dann überleben, wenn es ihnen gelang, ihre Identität als Rom:nja vor den Deutschen zu verbergen. Das war von zahlreichen Faktoren abhängig, beginnend bei der Hautfarbe und bei amtlichen Dokumenten, in denen damals die ethnische Zugehörigkeit vermerkt war, und nicht zuletzt von den Nachbarn und der von den Deutschen eingesetzten Polizei.

Antiziganismus heute: Hier wird´s politisch delikat…

Da es uns bei unserem Projekt nicht nur um Zeitzeugenerinnerungen geht, sondern auch darum, die heutige Situation von Rom:nja in Weißrussland und das Ausmaß von Diskriminierung zu erkunden, befragten wir zahlreiche Interviewpartner:innen auch hierzu. Dabei gab es eine Besonderheit: Einen Tag vor Beginn der Recherche gab es einen Zwischenfall in der Nähe der Stadt Mogilew. Dort wurde ein Polizist erschossen aufgefunden. In seiner letzten Meldung an die Zentrale hatte er davon gesprochen, er beobachte verdächtige Personen, bei denen es sich möglicherweise um Roma handelte. Die Folge war eine bis dahin in Belarus offenbar beispiellose Polizeikampagne gegen Rom:nja. In zahlreichen Ortschaften im ganzen Land wurden vor allem männliche Roma, aber auch manche Romni, festgenommen und zum Verhör gebracht, z. T. für mehrere Tage. Vielen wurden die Fingerabdrücke genommen. Dies geschah jeweils ohne irgendeinen konkreten Tatverdacht, als purer Ausruck eines „racial profiling“. Praktisch alle Interviewpartner:innen, denen wir in den Wochen darauf begegneten, wussten von solchen Festnahmen in ihrem Umfeld zu berichten. Auch die Medien berichteten umfangreich über diese Festnahmen. Wenige Tage später wurde das Ergebnis der Obduktion des toten Polizisten bekannt gegeben: Er hatte sich selbst mit seiner Dienstwaffe erschossen.

Der Umfang der Polizeimaßnahmen gegen Rom:nja sorgte nicht nur für eine kritische Medienberichterstattung (auch Präsident Lukaschenka soll die Maßnahmen kritisiert haben; der Innenminister trat kurz darauf zurück), sondern natürlich auch für eine große Emotionalisierung unter den Rom:nja. Dementsprechend kritisch äußerten sie sich zu ihren Erfahrungen, vor allem mit der Polizei. Zur Sprache kamen aber auch Diskriminierungen in praktisch allen sozialen Bereichen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Gesundheits- und Bildungswesen usw. Rom:nja, so bekamen wir zu hören, sehen sich starken Vorurteilen durch die Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt.

Als wir einige Monate später, im September 2019, im Rahmen der Exkursion erneut nach Diskriminierungserfahrungen fragten, waren die Reaktionen dagegen erstaunlich abgeflaut. Es gebe eigentlich keine Probleme, bekamen wir mehrfach zu hören, und wenn, dann wisse man sie zu lösen. Auch Vertreter:innen von Roma-NGOs, die wir bereits im Mai gesprochen hatten, relativierten im September ihre kritischen Äußerungen ganz erheblich. Wir können die Ursache hierfür nicht eindeutig festmachen, nehmen aber an, dass sie letztlich im Charakter des weißrussischen Staates liegen. Im Mai, „nach Mogilev“, war die Empörung unter den Rom:nja so groß, dass sie sich nicht länger zurückhalten wollten. Zugleich bestand unser Interviewteam da nur aus maximal fünf Personen. Im September waren die Emotionen zum einen bereits abgeklungen, zum anderen standen den Interviewpartner:innen auf einmal bis zu 17 Personen gegenüber, mit zwei bis drei Kameras plus mehreren Handys, die auf sie gerichtet waren. Wir halten es für gut möglich, dass es die Interviewpartner:innen in dieser Situation vorzogen, nicht allzu kritisch über Polizei oder Gesellschaft zu klagen, da sie nicht mehr abschätzen konnten, wo und bei wem ihre Äußerungen am Ende landen würden.

Ein Teil der Recherchearbeit bestand darin, bereits Kontakte zu örtlichen Museen und zu Medien aufzunehmen, um über unser Projekt zu informieren und evtl. Vorabsprachen zum Zeigen unserer Ausstellung zu treffen.

Im Gespräch mit “Gomelskie Wedomosti”, Gomel
Im Gespräch mit “Gomelskie Wedomosti”, Gomel

Drei Pressetermine mit anschließenden, z. T. längeren Artikeln kamen zustande: In den Städten Oschmjani, Gomel und XX. Auch unsere Ansprechpartner in den Museen Oschmjani und Minsk standen unserer Projektidee ausgesprochen aufgeschlossen gegenüber. Bedenken unsererseits, das Thema könne zu „exotisch“ oder gar politisch nicht gewollt sein, wurden damit zerstreut.