Fünf Angehörige der Universität Erlangen-Nürnberg reisten vom 5. bis zum 7. August unter der Leitung des wissenschaftlichen Mitarbeiters Leonard Stöcklein nach Berlin. Dort traf die Gruppe auf die Delegation der Roma-Diaspora Belarus um dessen zweiten Vorsitzenden Artur Gomonow.
Der Besuch in Berlin diente nicht nur dem gemeinsamen Kennenlernen und deutsch-belarussischen Austausch, sondern auch als Vorbereitung auf den bevorstehenden Gegenbesuch in Belarus Anfang Oktober, welchen das Bildungswerk für Erinnerungsarbeit und Frieden im Rahmen des Projekts „Ignorierter Genozid: Völkermord an Rom:nja in Belarus 1941-1944“ organisiert.
Während des Aufenthalts begleiteten die Studierenden der Uni Erlangen-Nürnberg die belarussische Delegation bei ihrem Programm. Dieses hatte einerseits zum Ziel, ein vertieftes Wissen über die Verfolgung deutscher Sinti:zze und Rom:nja und den nationalsozialistischen Vernichtungsapparat zu vermitteln, andererseits sollte die belarussische Delegation die Arbeitsfelder von in Deutschland ansässigen Selbstorganisationen der Sinti und Roma kennenlernen.
Am Vormittag besuchte die Nürnberger Gruppe das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas am Berliner Reichstag. Am Mittag nahmen alle gemeinsam an einer Stadtführung zu Orten in Berlin, die mit dem Völkermord verknüpft sind, unter der Leitung von zwei Roma der Selbstorganisation Rroma-Informations-Centrum teil.
Der erste Programmpunkt bildete die Gedenkstätte des ehemaligen Zwangslagers Marzahn, in welches im Zuge der Olympischen Spiele 1936 600 Berliner Sinti:zze und Rom:nja inhaftiert wurden. Neben der Einteilung zur Zwangsarbeit wurden die Inhaftierten auch Opfer von „rassehygienischen“ Untersuchungen, bevor die meisten Menschen vom Kleinkind bis zum Greis 1943 nach Auschwitz deportiert wurden.
Während der Stadtführung erhielt die Gruppe in der Freiluftausstellung der „Topografie des Terrors“ Einblicke, welche kollaborierende Rolle die deutsche Zivilgesellschaft bei der Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nja spielte und wie akribisch das Konglomerat an nationalsozialistischen Verfolgungsbehörden arbeitete. Daneben informierten die Guides über weitere Täter, wie der Kriminalpolizei Berlin sowie den „Forscher:innen“ Robert Ritter und Eva Justin. Diese Personen waren verantwortlich für die Erstellung von Gutachten, die angeblich „Rassezugehörigkeiten“ feststellen sollten. Die Gutachten waren häufig die Grundlage für Zwangssterilisationen und Deportationen von Sinti:zze und Rom:nja. Nach 1945 wurden die Täter:innen strafrechtlich nicht verurteilt und konnten ihre Berufe weiter ausüben.
Als letztes besuchte die Gruppe eine Gedenktafel, welche über die Biografie des Sinto und Profiboxers Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann informierte, dem deutschen Meister im Halbschwergewicht im Jahr 1933. „Rukeli“ ist im KZ Neuengamme ermordet worden. Die Gedenktafel ist erst 2019 auf Initiative des zivilgesellschaftlichen Vereins „Kein Mensch ist asozial“ und der Tochter Rita Trollmann durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg errichtet worden.
Der Tag schloss mit einem Vortrag von Prof. Dr. Hristo Kyuchukov, einem Linguisten der Schlesischen Universität Katowice, der sich in seiner Promotionsarbeit mit Bildungsbenachteiligungen von Roma-Kindern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion befasst hat, ab. Ergebnisse seiner Forschungen in Bulgarien waren, dass für geringere Bildungschancen antiziganistische Vorurteile der Lehrpersonen sowie eine fehlende Sprachförderung der bilingualen Romanes sprechenden Kinder ursächlich waren und nicht – wie allgemein behauptet – „angeborener Schwachsinn“.
Am nächsten Tag stellten zwei Mitarbeiterinnen der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus, kurz: „MIA“, mit Sitz in Berlin und weiteren Dienststellen unter anderem auch seit Juli 2023 in Bayern ihre Arbeit vor. Die aus dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma entstandene, aber mittlerweile unabhängige Organisation, erfasst, dokumentiert und wertet antiziganistische Vorfälle in Deutschland aus, die der Stelle gemeldet werden. Ziel der Stelle ist es, Zahlen, Daten und Fakten zu erheben über die Diskriminierung der Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland zu erheben.
Beim anschließenden Besuch des seit 2015 tätigen feministischen Vereins Romani Phen hörten die Anwesenden zunächst einen Vortrag über die Ziele und Arbeitsfelder des Vereins.
Dieser möchte insbesondere die Autonomie von Romnja durch Communityarbeit stärken. Dies geschieht vor allem durch die gegenseitige Unterstützung bei der Umsetzung gemeinschaftlicher Pläne wie das Interviewen von Zeitzeug:innen, der Weitergabe des musikalischen und kulturellen Erbes sowie der Erstellung von Bildungsmaterialien für den schulischen und außerschulischen Unterricht. Besonders stolz ist der Verein auf das hauseigene Archiv.
Den Abschluss der Exkursion bildete ein Besuch am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park, um sich danach bei einem gemeinsamen Abendessen vor der anstehenden Reise im Oktober nach Belarus nochmals auszutauschen.