Deutschland: Späte Aufarbeitung, verweigerte Entschädigung, fortgesetzte Diskriminierung
Den überlebenden Sinti:zze und Rom:nja blieb nach 1945 die Anerkennung als Opfer eines Völkermordes jahrzehntelang versagt. In Gesellschaft und bei Behörden stießen sie häufig auf anhaltende antiziganistische Vorbehalte. Das galt für beide deutsche Staaten.
Laut Gesetzblatt der DDR waren ab 1950 »Zigeuner, die wegen ihrer Abstammung in Haft waren und nach 1945 durch das zuständige Arbeitsamt erfaßt wurden und eine antifaschistisch-demokratische Haltung bewahrt haben«, als Verfolgte des Nazismus (VdN) anerkannt. Sinti:zze waren die einzige Verfolgtengruppe, deren Anspruch von der Meldung beim Arbeitsamt abhängig gemacht wurde. Etlichen Sinti:zze wurden jedoch Gewerbescheine verweigert. Ihre dadurch bedingte Arbeitslosigkeit wurde ihnen mitunter als »asoziales« Verhalten vorgeworfen, das mit Strafe bedroht war und eine Anerkennung als VdN ausschloss.
Die Prüfungsgremien in der DDR zogen bisweilen, in der BRD sogar regelmäßig, polizeiliche Akten der Nazizeit heran. In der BRD scheiterten die Anerkennungs- und Entschädigungsanträge der Überlebenden häufig daran, dass sie von den gleichen Beamten geprüft wurden, die zuvor in den »Zigeunerpolizeistellen« für Verfolgungsmaßnahmen verantwortlich waren. In einem Urteil von 1956 behauptete der Bundesgerichtshof, bis zum Beginn der Deportationen nach Auschwitz im Frühjahr 1943 seien Verfolgungsmaßnahmen (etwa die schon zuvor erfolgten Deportationen) gegen Sinti:zze und Rom:nja nicht aus »rassenideologischen« Gründen erfolgt, sondern aufgrund der »bereits erwähnten asozialen Eigenschaften der Zigeuner.« 1963 wurde dieses Urteil zwar revidiert, aber die ab 1935 erfolgte Einquartierung in kommunale Zwangslager wurde in der BRD erst 1977 (in der DDR 1967) als Verfolgungstatbestand anerkannt.
Auf diese Weise wurden Sinti:zze und Rom:nja ein weiteres Mal von den Behörden stigmatisiert und kriminalisiert. Wie sehr die Betroffenen durch diese Stigmatisierungen (re-)traumatisiert wurden, und was dies für ihr Vertrauen in Staat und Gesellschaft bedeutete, ist bis heute unerforscht.
Die Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes, das monatliche Zahlungen für deutsche NS-Opfer vorsieht, konnten daher nur wenige Sinti:zze und Rom:nja in Anspruch nehmen. Auch ausländische Rom:nja unterliegen einer diskriminierenden Entschädigungs- praxis: Während beispielsweise Vereinbarungen mit der Jewish Claims Conference monatliche Leistungen für jüdische NS-Opfer vorsehen, hat Deutschland keine vergleichbaren Regelungen für Rom:nja in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern getroffen. Sie erhielten bestenfalls eine Einmalzahlung in niedriger vierstelliger Höhe.
Sinti:zze und Rom:nja erkämpfen Anerkennung
Die politische Anerkennung als Opfer der Nazis begann erst in den 1980er Jahren, nachdem Sinti:zze und Rom:nja in der BRD ihre eigene Bürgerrechtsbewegung gründeten. An Ostern 1980 führten Sinti-Aktivisten, darunter auch Überlebende des Naziterrors, in der KZ-Gedenkstätte Dachau einen spektakulären Hungerstreik durch. Damit gewannen sie endlich die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Historiker:innen und Politiker:innen, die den Völkermord bis dahin ignoriert hatten. 1982 bezeichnete Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verfolgung von Sinti:zze und Rom:nja ausdrücklich als Völkermord.
Quelle: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
In der DDR engagierte sich vor allem der Bürgerrechtler Reimer Gilsenbach für die Anerkennung der Sinti:zze, häufig in Form von Eingaben und in den 1980er Jahren mit Vorträgen und Artikeln. In der Ausklammerung der Sinti:zze aus dem Gedenken an die von den Nazis Ermordeten sehe er »ein Anzeichen von latent fortdauerndem Rassismus«, schrieb er 1984 an die Berliner VdN-Kommission.
Erst 1997 stellte der damalige Bundespräsident Roman Herzog eindeutig fest: »Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.« 2012 wurde in Berlin ein Denkmal für die ermordeten Sinti:zze und Rom:nja Europas eingeweiht.
Der Architekt des Mahnmals, Dani Karavan, schrieb in einem offenen Brief:
Mein Wunsch war es, einen Ort der Selbstreflexion zu schaffen, der die Erinnerung an diejenigen ehrt, die unter dem NS-Regime umgekommen sind … Die Blume symbolisiert die nicht markierten Gräber der Sinti und Roma, die vom NS-Regime ermordet wurden, da Wildblumen ihr einziger Grabstein waren … Die Blume ist das Herz des Denkmals und gibt ihm seine Bedeutung und sein Leben … Das Denkmal wurde unter Einbeziehung der umgebenden Bäume geplant, die eine einzigartige Umgebung der Stille schaffen. Wenn die Bäume in irgendeiner Weise verändert werden, verliert die Lichtung selbst ihre Eigenschaften und die einzigartige Atmosphäre des Denkmals wird beschädigt. Ich schätze die Versuche, eine mögliche Lösung für die Bahnlinie zu finden, aber die Ideen, die mir bisher vorgestellt wurden, sind keine Option, da sie das Denkmal erheblich verändern werden.
Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wissen heute 81 Prozent der Deutschen, dass Sinti:zze und Rom:nja von den Nazis verfolgt wurden. Wie tief diese Kenntnisse reichen, geht aus der Studie nicht hervor. Bedenklich ist, dass die Gruppe der unter 34jährigen darüber weniger weiß als die älteren Generationen.