»Sie haben die ganze Familie meiner Mutter getötet«

Marija Nikolajewna Wasiljewa, geb. ca. 1936

Die Erinnerungen von Marija Nikolajewna beleuchten, wie wichtig das Verhältnis der Rom:nja zur örtlichen Bevölkerung für das Überleben sein konnte: Gleich zweimal wurden ihre Eltern von Deutschen bedroht, und beide Male überlebten sie dank der Fürsprache ihrer Nachbarn. Dies galt allerdings nur zu Beginn der Besatzung, bevor die systematische Verfolgung der Rom:nja durch die Deutschen begann.

Marija Nikolajewna Wasiljewa

Früher lebten wir nomadisch, aber mein Großvater hatte ein Haus in einem Dorf im Gebiet Gomel. Das war für uns wie ein Heimatdorf. Mein Vater hatte eine sehr dunkle Haut. Eines Tages, als er vor dem Haus auf der Bank saß und rauchte, kamen Deutsche und nahmen ihn mit. Meine Mutter ging durch das Dorf, in alle Häuser, und jeder hat unterzeichnet, dass wir gute Leute sind und sehr fleißig arbeiten. Meine Eltern arbeiteten schon seit vielen Jahren in der Kolchose. Tatsächlich wurde mein Vater nach drei Tagen freigelassen. Die Roma aus dem Lager sagten meinem Vater: »Nikolaj, Du gehst nach Hause zurück, und wir werden getötet. Uns werden sie erschießen.« Danach ging er zu den Partisanen.

Auch meine Mutter wurde eines Tages festgenommen. Sie hatte helle Haut, und die Deutschen glaubten, sie sei Jüdin. Aber sie hatte immer ihren Ausweis um den Hals, darin stand, dass sie Arbeiterin in der Kolchose ist. Auch die Nachbarn sagten den Deutschen:

»Sie ist keine Jüdin, sie ist eine Romni, sie geht arbeiten«.

Damals wurden noch nicht alle Roma erschossen. Aber es gab die ersten Gerüchte. Mein Vater hatte einen guten Freund. Er war Polizist und wohnte im selben Dorf.

Dieser Polizist hat gesagt, dass die Deutschen kommen und Juden und Roma lebendig begraben. Schließlich haben sie die ganze Familie meiner Mutter getötet. Meine Tanten, meine Cousins, meine Großmutter mütterlicherseits… Kinder, junge Frauen und alte Leute, alle haben sie getötet. Die Deutschen kamen mit Autos und nahmen sie mit. Die Mädchen haben sie misshandelt und dann auch erschossen. Meine Mutter und meine andere Großmutter haben irgendwie überlebt. Sie gingen zu den Partisanen. Dort trafen wir auch meinen Vater.

Wir litten an Hunger und Kälte. Die Mutter lief durch die Dörfer und bat um Essen. »Um Christi willen«, bat sie, »um der Kinder willen«. Die Leute kannten sie. Sie sammelte verfaulte Kartoffeln, Sauerampfer, Beeren auf dem Feld.


Marija Nikolajewna berichtet von einem Massengrab in der Nähe von Tschetschersk, das sie in der Vergangenheit besucht habe.

»Dort wurden die Roma lebendig begraben. Man erzählt sich, dass sich die Erde drei Tage lang bewegt hat.«

Nach Angaben von Yad Vashem wurde in Tschetschersk schon bald nach dem Einmarsch der Deutschen ein Ghetto für die verbleibenden Jüdinnen und Juden errichtet, gleichzeitig eines für die Rom:nja.

Im November und Dezember 1941 wurden alle in Tschetschersk noch lebenden Jüdinnen und Juden, zusammen mit den Rom:nja, in Panzergräben ermordet.

Das Projekt »Voices of the Jewish Settlements« hat außerdem folgenden Zeugenbericht über das Massaker in Tschetschersk veröffentlicht:

Der Sekundarschullehrer Iwan Makarowitsch Gorbatschow erinnerte sich:

Tschetschersk Denkmal
Quelle: Projekt »Voices of the Jewish Settlements« / Link

»Am 28. Dezember 1941 um 14 Uhr trieben die Deutschen alle Juden und Roma auf die Straße. Es war sehr kalt, ungefähr 30 Grad unter Null. Die Menschen wurden in Kolonnen unter der verstärkten Begleitung der Deutschen und der Polizisten Soborominski, Koslow, Gintsir, Belkin und Tschumakow aus der Stadt zum Panzerabwehrgraben geführt. Viele gingen barfuß und ohne warme Kleidung. Die Menschen wurden zur Eile angehalten. In der Nähe des Grabens mussten sie sich ausziehen und wurden mit Schüssen in den Hinterkopf getötet. An diesem Tag wurden 432 Zivilisten ermordet. Nach dieser Massenexekution wurden noch weitere Roma und andere Menschen aus anderen Bezirken dort hingebracht und getötet. Bei Razzien wurden Juden gefunden und aus den Dörfern Osinowka, Salesje, Sagorje zum Grab gebracht. Hier sind etwa 700 Menschen getötet worden.«

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Projekts »Voices of the Jewish Settlements«. Weitere Information auf Russisch. Weitere Informationen zum Massaker in Tschetschersk bei Wiki, bei Yadyashem.


Bericht der deutschen Besatzer
Dieser Bericht der deutschen Besatzer verdeutlicht, welch widersprüchliche Erfahrungen sie mit dem Einsatz örtlicher Zivilisten als »Hilfspolizei« machten: Von williger Kollaboration bis zu verdeckter Widerstandstätigkeit. Quelle: BArch RH 26-221/22 Blatt 713
Ortskomandatur
Zur »Überwachung der Bevölkerung hinsichtlich der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung« war die deutsche Besatzungsmacht auf einheimische Ordnungskräfte angewiesen. Quelle: BArch RH 26-221/22 Blatt 725