Zwei Wochen lang reisten wir durch Rumänien, Moldau und die südwestliche Ukraine – anstrengend war es und intensiv. Wir hatten etliche Begegnungen mit Überlebenden und ZeitzeugInnen, die uns darin bestärkt haben, das richtige Projekt durchzuführen. Zu den Highlights gehörte auch der überaus freundliche Empfang in dem Dörfchen Krasnenke in der Ukraine, wo uns die Bürgermeisterin zum dortigen Denkmal für die Roma führte, die 1942 dorthin deportiert worden waren.
Zu dem ohnehin fordernden Thema kamen einige Herausforderungen wie überbuchte Hotels, schlaglochübersäte Straßen, Schwitzerein in engen öffentlichen Verkehrsmitteln usw. Trotz allem Stress: Wir haben alle viel gelernt und sind motiviert, weiterzumachen!
Hier der ausführliche Bericht der Projektreise, bald auch auf rumänisch!
Bericht der Projektleitung über den Verlauf der Projektreise
14. – 27. Mai 2016, Bukarest-Chisinau-Bug-Odessa
Allgemeines:
Zur Reise hatten sich wie von uns geplant acht Jugendliche aus vier Ländern angemeldet. Leider sagten wenige Tage vor Beginn der Reise beide TeilnehmerInnen aus Moldau ab, eine aus Krankheitsgründen, einer gab keine Gründe an. Die Mitreise zweier weiterer MoldauerInnen, die auf der „Warteliste“ standen, konnte so kurzfristig nicht mehr realisiert werden. Wir konnten allerdings eine dritte Teilnehmerin aus Rumänien hinzugewinnen.
Von den insgesamt sieben TeilnehmerInnen waren drei Romnija sowie zwei Roma. Hinzu kamen zwei Frauen, die nicht der Roma-Minderheit angehören. Somit nahmen an der Reise 5 Frauen und 2 Männer teil. Unsere Bedenken von zu Beginn des Projektes, dass die Reisegruppe zu sehr von Männern dominiert sein könnte, haben sich damit zum Glück nicht bewahrheitet.
Fast alle TeilnehmerInnen sprachen Englisch, drei der fünf Roma außerdem Romanes, so dass sich mehr oder weniger alle mit allen verständigen konnten. Positiv war dabei vor allem, dass die drei Romanes-sprachigen Roma sich mit den Überlebenden in ihrer Muttersprache unterhalten konnten.
Die Reiseleitung bestand aus Marina Koren, Gerit Ziegler und Frank Brendle vom Bildungswerk für Friedensarbeit. Jeder der drei hatte während der Fahrt spezifische Schwerpunkte wie Kontakte zu Partnern vor Ort, Organisation vor Ort, Verwaltung der Barkasse, Regie der Filmaufnahmen, Ansprechbarkeit für die TeilnehmerInnen. Außerdem wurde die Reise während der ersten Woche von Kameramann Roman Pernack und in der zweiten Woche von Kamerafrau Iris Disse begleitet.
Zwei der TeilnehmerInnen haben Vorkenntnisse im Filmbereich und erklärten sich bereit, ihre Kenntnisse dem Projekt zur Verfügung zu stellen, insbesondere durch Unterstützung in der Kameraarbeit bzw. dem eigenständigen Filmen der Interviews.
Während der Reise wurden zahlreiche Interviews mit Überlebenden, ZeitzeugInnen und ExpertInnen durchgeführt, Museen und Gedenkstätten besichtigt. Es gab auch Begegnungen mit PolitikerInnen und Medien.
Sämtliche Interviews mit ZeitzeugInnen und ExpertInnen wurden von den TeilnehmerInnen selbst geführt, in der Regel von einem Duo mit einem Haupt-Interviewer und einer zweiten Person, die während des Interviews weitere Fragen notierte, die sich aus dem Gespräch ergaben. Als Interviewer wurden soweit möglich TeilnehmerInnen bestimmt, die die Sprache der Interviewten teilten. Für die anderen TeilnehmerInnen wurden jeweils Übersetzungen angeboten. Je nach Gesprächssituation handelte es sich dabei entweder um vollständige Konsekutiv-Übersetzungen oder um Zusammenfassungen.
Die Unterkunft für die TeilnehmerInnen erfolgte überwiegend in Doppelzimmern, im Einzelfall auch in größeren Mehrbettzimmern.
Die Reise von Bukarest über Chisinau an den Bug und nach Odessa erfolgte zunächst mit öffentlichen Verkehrsmitteln und von Kotowsk (Ukraine) aus mit zwei Minibussen, die inklusive Fahrer von unseren ukrainischen Partnern gestellt wurden.
Samstag, 14. Mai 2016
Workshop im Elie-Wiesel-Institut: Samstag und Sonntag, 14./15. Mai 2015
Das Elie-Wiesel-Institut, in vollem Namen: „Nationales Institut zur Erforschung des Holocaust in Rumänien ‚Elie Wiesel‘“, war ein absolut passender Ort für den Projektauftakt. An dieser Stelle sei dem Institut und dem ganzen Personal für seine Unterstützung gedankt!
Institutschef Alexandru Florian begrüßte uns und stellte die Geschichte und die Arbeit der Einrichtung vor. Gegründet wurde sie im Jahr 2005 als Reaktion auf die offensichtliche Lücke in der Forschung, aber auch im Geschichtsbewusstsein Rumäniens. Zuvor hatten führende Politiker immer wieder abgestritten, dass es in Rumänien einen Holocaust gegeben habe. Mit nur 5 ForscherInnen gegen Ignoranz und Leugnung anzukämpfen, ist allerdings auch nicht gerade leicht. Neben eigenen Forschungstätigkeiten gehört zur Arbeit des Instituts auch die Fortbildung von Lehren, immerhin zehn Prozent aller rumänischen Lehrer haben entsprechende Veranstaltungen des Instituts besucht.
Florian warf auch einen Blick ins Nachbarland Moldau, wo demnächst, unterstützt durch öffentliche Gelder, eine Konferenz stattfinde, bei der es um die Rehabilitierung des rumänischen Diktators und Hitler-Verbündeten Marschall Ion Antonescu geht.
Im Anschluss gab es eine Vorstellungsrunde, bei der sich die Teilnehmer gegenseitig kennenlernen und ihre Vorkenntnisse und spezifischen Interessen austauschen konnten.
Die Projektleiter stellten das Projekt und den Ablaufplan der Reise vor.
Zur Dokumentation des Projekts wurden alle aufgerufen, möglichst täglich kurze Berichte, Erfahrungen und Einschätzungen usw. schriftlich festzuhalten und unserem Facebookauftritt bzw. dem Blog zur Verfügung zu stellen. Adrian-Nicu Furtuna vom Forschungszentrum für Kultur- und Sozialgeschichte „Romane Rodimata“ in Bukarest, stellte das Programm des workshops vor.
Sonntag 15. Mai
Beginn der eigentlichen workshop-Arbeit. Zuerst ging es um die Vermittlung grundlegender historischer Fakten.
Ana Barbulescu, Wissenschaftlerin am Elie-Wiesel-Institut, stellte den Verlauf des Holocaust in Rumänien vor, mit einer lange vor Kriegsbeginn eingeleiteten antisemitischen Politik. Führende Politiker, aber auch Intellektuelle, hatten nach und nach ethnozentrische Blickweisen übernommen und strebten die „Rumänisierung“ des Landes und damit einhergehend die Eliminierung der jüdischen Bevölkerung an.
Die Besetzung Transnistriens ermöglichte es der rumänischen Regierung, die aus ihrer Sicht unerwünschten Bevölkerungsteile zu deportieren. Ana Barbulescu stellte dabei die Kriterien für die Deportation der Roma vor, die im Frühjahr 1942 begann.
Noch heute seien große Teile der rumänischen Bevölkerung der Ansicht, für den Holocaust sei alleine Deutschland verantwortlich, während die Verantwortung Rumäniens nicht wahrgenommen werde. An diesem Punkt setzt die Arbeit des Instituts an, das den Anteil Rumäniens am Holocaust herausarbeiten will.
In der Diskussion wurde deutlich, dass die Frage, wie die Bedeutung der „sozialhygienischen“ und der „rassehygienischen“ Motivation für die Deportation zu gewichten ist, kontrovers diskutiert wird. Nach Ana Barbulescu, die hier ausdrücklich ihre persönliche Sicht vorstellte, folgte die Deportation der Roma eher „sozialhygienischen“ Überlegungen. Ihr Lebensstil, der sich von dem vieler Rumänen unterschied, machte sie zu Außenseitern. Nationalistische Rumänen waren nicht bereit, den abweichenden Lebensstil der Roma zu akzeptieren. Sie erklärten ihn für unvereinbar mit der rumänischen „Seele“.
Adrian-Nicolae Furtuna dagegen verwies auf Äußerungen rumänischer Intellektueller, die von einer Gefahr für das „rumänische Blut“ gesprochen haben. Auch in der Medizin sei die Idee der Eugenik vorgedrungen, zwar mit anderer Schwerpunktsetzung als in Deutschland (die Betonung lag in Rumänien mehr auf „Volk“ denn auf „Rasse“), aber ebenso biologisch begründet.
Ana Barbulescu wies darauf hin, dass ressentimentgeladene Etikettierungen von Roma durch Rumänen als „faul und schmutzig“ heute immer noch vorhanden seien. Die soziale Distanz zwischen Rumänen und Roma sei heute noch immer groß, vielleicht sogar größer.
Ein weiterer Mitarbeiter des Instituts beschrieb erneut den aktuellen Stand des Geschichtsbewusstseins in Rumänien: Es gebe ein starkes Bestreben nach einer Rehabilitierung von Marschall Antonescu und der Legionärsbewegung. In einer Umfrage des Instituts aus dem Jahr 2015 äußerten 50 Prozent der Befragten die Ansicht, Antonescu sei ein Patriot, und für den Genozid in Transnistrien trage alleine Deutschland die Verantwortung. Auch an Universitäten gebe es noch Professoren, die die rumänische Verantwortung leugnen. Die Legionäre würden von Revisionisten als christliche Verteidiger Rumäniens gegen den Kommunismus verherrlicht.
Der mit Abstand größte Teil des Workshops bestand in der Vermittlung von Interviewtechniken. In Rollenspielen wurde erprobt, welches Verhalten und welche Fragetechnik für ein Interview produktiv sind und welche nicht (Blickkontakt, Aufmerksamkeit usw.). Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass die Fragestellungen insbesondere bei Zeitzeugen-Interviews nicht zu abstrakt oder „akademisch“ sein, sondern möglichst an konkreten Lebenssituationen der Interviewten anknüpfen sollen. Zunächst in Gruppenarbeiten und im Anschluss in der Gesamtgruppe wurde ein gemeinsamer Leitfaden erarbeitet.
Montag, 16. Mai
Am Vormittag besuchten wir das Holocaust-Museum, das die Jüdische Gemeinde in der Großen Synagoge eingerichtet hat. Die Ausstellung dort geht zwar nicht auf die Deportationen von Roma ein, sondern konzentriert sich vollständig auf die Deportation von Jüdinnen und Juden aus der Nordbukowina und Bessarabien. Da es sowohl im Ablauf als auch der Motivation und erst recht in den Schicksalen der Deportierten aber erhebliche Ähnlichkeiten gibt, war dieser Besuch für die Vermittlung historischen Wissens hilfreich. Ein in der Ausstellung abgebildetes Dokument zeigt zudem die Diskriminierung von Roma im rumänischen Herrschaftsgebiet: Es handelt sich um eine offizielle Festsetzung von Zuckerrationen. Für „Christen“ sind dabei die meisten Einheiten festgesetzt, für „Juden“ die wenigsten, und die Rationen für „tsigan“ bewegen sich in der Mitte. Darin drückt sich nicht nur eine rassistische Hierarchie aus, sondern auch die völlige Ausblendung der Tatsache, dass „Zigeuner“ in aller Regel ebenfalls Christen waren.
Am Nachmittag fand das erste Interview mit Zeitzeugen statt. Das Interview sollte eigentlich im Elie-Wiesel-Institut stattfinden. Es stellte sich aber heraus, dass ein Kommunikationsfehler vorlag, so dass Interview kurzfristig in eine nahe gelegene Gaststätte verlegt werden musste.
Bei den Interviewten handelt es sich um Braila und Ioan Constantin, zwei Brüder, die heute in Bukarest leben. Sie haben beide eine sehr gute Erinnerung an die Zeit, die sie als Kinder in Transnistrien verbringen mussten (eine Zusammenfassung des Interviews folgt separat, sobald Transkription und Übersetzung erfolgt sind). Mit den beiden Überlebenden besichtigten wir anschließend das Holocaust-Denkmal am Rand der Bukarester Altstadt, das explizit auch dem Genozid an Roma gewidmet ist.
Dienstag, 17. Mai
Vormittags fand im Konferenzraum des Hotels ein kurzer workshop statt, bei dem zum einen der Ablauf des Interviews am Vortag besprochen wurde, zum anderen wurden die in verschiedenen Gesprächen offenkundig gewordenen historischen Kenntnislücken angesprochen. Anhand einer Landkarte Rumäniens in damaligen und heutigen Grenzen wurden noch einmal die wichtigsten historischen Fakten vermittelt.
Der für den Nachmittag geplante Besuch im Museum für Roma-Kultur musste gestrichen werden, weil die Ausstellung dort infolge eines Brandschadens weitgehend entfernt werden musste. Stattdessen fand die Begegnung mit der Direktorin Nicoleta Bitu in der RomaniBoutique statt, einem Ladengeschäft in der Bukarester Altstadt statt, das von Nicoleta Bitu geleitet wird. In dem Geschäft werden Gebrauchsgegenstände und Kunsthandwerk von Roma verkauft.
Gegenstand des Interviews waren Fragen zu Problemlagen der Roma in Rumänien und der Bedeutung von „Integration“, die von Frau Bitu problematisiert wurde. Es gebe zwar Diskriminierung von Roma, so ihre These, aber das Problem sei nicht ein Mehr an Integration, weil die im Wesentlichen schon erfolgt sei und überdies suggeriere, Roma seien bislang nicht vollwertiger Teil der rumänischen Nation. Die Probleme von Roma seien ein Spiegel für die Probleme der gesamten Nation. Deren Zustand zu verbessern und bestehende sozialstrukturelle Probleme anzugehen, sei eine Aufgabe, die sich Roma und Nicht-Roma gemeinsam stelle.
Abends konnte die gesamte Gruppe ein Konzert im Athenäum besuchen, für das Nicu-Adrian Furtuna Freikarten organisiert hatte. Das Konzert fand aus Anlass des Roma Resistance Days statt, bei den Künstlern handelte es sich mehrheitlich um Angehörige der Roma- und der jüdischen Minderheit.
Mittwoch, 18. Mai
Vormittags ging es mit dem Zug nach Galati. Nachmittags fand eine Aussprache über Vorteile und Defizite des bisherigen Projektverlaufs statt. Von Teilnehmerseite wurden unter anderem Mängel in der Organisation und der Transparenz der einzelnen Projektmaßnahmen angesprochen. Dabei ging es unter anderem um die Höhe der Verpflegungspauschale. Zudem beklagten einige Teilnehmer mangelnde Zeit für die Vorbereitung auf bevorstehende Interviews.
Die Projektleitung bat die TeilnehmerInnen, mehr auf Pünktlichkeit zu achten. Um den Wunsch nach mehr Transparenz und mehr Vorbereitung zu erfüllen, wurde den TeilnehmerInnen das für die kommenden eineinhalb Wochen geplante Programm erneut und diesmal ausführlicher vorgestellt. Dabei wurde für jeden eingeplanten Zeitzeugen dessen Kurzbiographie vorgestellt. Die Teilnehmer erhielten diese Informationen noch am gleichen Tag auch als email, verbunden mit dem Hinweis, dass sich diese und weitere Informationen auch auf dem Projekt-Blog befinden. Die Projektleiter forderten erneut dazu auf, die wesentlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken in einer Tagebuchform festzuhalten und der facebookseite bzw. dem Blog zur Verfügung zu stellen.
Im Anschluss stellte der nach Galati mitgereiste Bukarester Historiker Petre Mattei die bestehenden Entschädigungsprogramme Rumäniens und Deutschlands (vor allem die sog. Ghettorente) vor.
Donnerstag, 19. Mai
Mit drei Fahrzeugen (Leihwagen) fuhr die Gruppe vormittags in das rund 60 Kilometer entfernte Ivesti. Dort leben zahlreiche Roma von der Gruppe der Kalderash,, die schon vor dem Krieg zusammen lebten. Praktisch jede Familie der vor dem Krieg nomadisch lebenden Gruppe hat ein Deportationsschicksal erlitten.
Auf Anraten von Petre Mattei, der aufgrund seiner Kenntnisse über die Entschädigungsregelungen viele Überlebende persönlich kennt und uns dadurch die Interviews in Ivesti vermitteln konnte, wurde zunächst der „Bulibasha“ der Roma-Siedlung in Ivesti besucht, um ihm das Projekt vorzustellen.
An diesem Tag wurden insgesamt fünf Überlebende interviewt, die als Kinder bzw. Erwachsene (der älteste Interviewte war 95 Jahre alt und war zum Zeitpunkt der Deportation bereits 21) deportiert worden waren. Die Interviewten berichteten von den Lebensumständen und der Arbeit, die sie verrichtet haben.
Freitag, 20. Mai
Vormittags ging es mit dem Bus in die moldauische Hauptstadt Chisinau. Dort wurde nachmittags der Historiker Ion Duminica interviewt. Duminica forscht zur Geschichte des Genozids an Roma und arbeitet in der Abteilung „Ethnische Minderheiten“ im Zentrum für Ethnologie an der Akademie der Wissenschaften.
Er stellte zum einen den mageren Forschungsstand zum Thema heraus. Noch seien viele Archive nicht gründlich erforscht worden, und die Arbeit mit Zeitzeugen habe erst spät begonnen. Die von rumänischen Historikern meist genannte Zahl von 25.000 Deportierten sei unzuverlässig und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gering angesetzt, weil viele Familienmitglieder sich ihren deportierten Verwandten angeschlossen hätten, ohne von der rumänischen Gendarmerie erfasst worden zu sein.
Duminica beklagte zum anderen das geringe Interesse, das die Öffentlichkeit an dem Thema hat. Auch innerhalb der Roma-Community sei das Interessen an der eigenen Geschichte nur gering ausgeprägt. Ein weiteres Problem bei der Erforschung des Themas sei zudem die Politisierung der Geschichte und die geringe Bereitschaft „rumänistischer“ Historiker, die Rolle Antonescus kritisch zu hinterfragen.
Samstag 21. Mai
Vormittags wurde gemeinsam eine Auswertung der bisherigen Interviews vorgenommen, insbesondere jener in Ivesti. Insgesamt konnte hervorgehoben werden, dass der erarbeitete Leitfaden und die Grundzüge der Interviewtechnik von allen bisherigen InterviewerInnen beachtet wurden. Teilweise blieben sie aber zu eng an einem vorbestimmten Programm und waren zu wenig flexibel, um Fragen oder ihre Reihenfolge zu verändern. Festgehalten wurde zudem, dass fünf Interviews, die sich über mehrere Stunden hinziehen, zu viel für einen Tag sind. Darunter leidet die Konzentration aller Teilnehmer, insbesondere der Interviewer selbst, die am Ende des Tages den Überlebenden nicht mehr genug Aufmerksamkeit entgegenbringen können.
Alle Teilnehmer wurden zudem gebeten, den Klagen der Interviewten über ihre soziale Lage und ihre medizinische und finanzielle Bedürftigkeit nicht mit Versprechungen zu begegnen, sich um Projektfonds zu kümmern. Nach den Erfahrungen der Projektleiter können solche Versprechungen nur selten erfüllt werden. Für die Beantragung von Entschädigungsgeldern oder ähnlichen Mitteln ist zudem ein Expertenwissen nötig, über das keiner der Teilnehmer verfügt. Es muss stets darauf hingewiesen werden, dass unser Projekt der Aufarbeitung der Geschichte dient und damit nur mittelbar der Roma-Community als Ganzes zugute kommt.
Sämtliche für den Nachmittag geplanten drei Interviews (Überlebende in Hivesti und Bender, in der Umgebung Chisinaus) mussten entfallen, weil die Überlebenden nicht anwesend waren. Dies konnte unsere moldauische Partnerin Kristina Raducan zum Glück noch vor Abfahrt feststellen. Der Nachmittag bestand daher aus Freizeit, was vielen TeilnehmerInnen auch ein wichtiges Bedürfnis war.
Sonntag, 22. Mai
Aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse dauerte die Reise ins ukrainische Liubaschiwka den ganzen Tag. Bei der Abfertigung an der Grenze zur – international nicht anerkannten – Republik Pridnestrovje baten uns die Vertreter des „KGB“, das Projekt zu erläutern, weil sie ohnehin einen Bericht über unsere Abfertigung schreiben müssten. Dieser Bitte sind wir natürlich gerne nachgekommen, so dass wir jetzt auch im Archiv der Behörden eines nicht anerkannten Staates gespeichert sind.
Montag, 23. Mai
Vormittags fuhren wir in das wenige Kilometer entfernte Dorf Krasnenke. Während des Zweiten Weltkrieges befand sich nahe dem Dorf ein Lager, in dem deportierte rumänische Roma in Erdhütten untergebracht worden waren. Vor wenigen Jahren wurde finanziert vom Vorsitzender der örtlichen Bauernvereinigung ein Denkmal zur Erinnerung an diese Roma aufgestellt.
Zunächst wurden wir von der Bürgermeisterin und einem Mitglied des Kreisrats empfangen, die uns als Zeichen der Gastfreundschaft Brot und Salz überreichten. Im Rathaus erläuterte uns die Bürgermeisterin die Umstände der Aufstellung dieses in der Ukraine in seiner Art einzigartigen Denkmals. Die ukrainischen Dorfbewohner hätten damals versucht, den Deportierten nach Möglichkeit zu helfen. Die Botschaft des Denkmals, so die Bürgermeisterin, sei, dass die einfachen Leute auch in Zeiten des Krieges zusammenhalten müssten. Bei dem Treffen war auch eine Journalistin der Lokalzeitung anwesend.
Daraufhin wurde das Denkmal besichtigt. Auf den ersten Blick fiel auf, dass es seit dem Besuch des Rechercheteams im vorigen Sommer gereinigt und vom überwucherten Unkraut befreit worden war.
Ukrainische Schüler führten kurze Szenen auf, die sie nach Ankündigung unseres Besuches in der Schule eingeübt hatten.
Gezeigt wurden die Ungerechtigkeit der Deportation und die Not der Deportierten, aber auch die Hoffnung, die ihnen das solidarische Verhalten der örtlichen Bevölkerung vermittelt hätten.
Diese Aufführung hatte zwar zweifellos etwas Stereotypes, für uns ist aber wichtig, dass unser Projekt in dieser Ortschaft ganz konkret dazu beigetragen hat, dass sich Politik, Medien und Schüler mit der Geschichte der Deportation von Roma beschäftigt haben. Der Moment, an dem sich jugendliche Roma und Dorfbewohner, die sich um die Erinnerung bemühen, gemeinsam um das Mahnmal aufstellten, gehörte sicherlich zu den bewegendsten der Projektreise.
Das Mahnmal selbst weist einen inhaltlichen Fehler auf, weil es den deportierten Roma eine „serbische“ Herkunft zuschreibt. Dem liegt offenbar ein in der Region weit verbreitetes Missverständnis zugrunde, demzufolge alle Roma ursprünglich aus Serbien stammten. Dem Anliegen der Erinnerung an Unrecht und Genozid tut dies indes keinen Abbruch.
Anschließend fuhren wir, nach wie vor in Begleitung der Bürgermeisterin, des Kreisabgeordneten und der Journalistin, zum historischen Ort des Roma-Lagers. Heute befindet sich dort ein Wald. An manchen Stellen, an denen früher die Erdhütten waren, sind heute noch Absenkungen des Bodens zu sehen. Die Bürgermeisterin zeigte uns außerdem einen Ort am Fluss, an dem Romnija damals ihre Wäsche wuschen.
Zum Abschluss dieser Begegnungen wurde unsere Reisegruppe zu einem Mittagessen im Kulturhaus eingeladen. Finanziert wurde das Essen wiederum vom Vorsitzenden der Bauernvereinigung.
Am späten Nachmittag fand schließlich noch ein Interview mit einer ukrainischen Zeitzeugin statt, die von ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die deportierten Roma berichtete.
Dienstag, 24. Mai
Vormittags ging es nach Beresiwka, das wegen der wiederum sehr schlechten Straßenverhältnisse erst am späten Nachmittag erreicht wurde. Im nahegelegenen Dorf Slipucha wurde eine Ukrainerin deutscher Herkunft („Volksdeutsche“) interviewt. Sie konnte uns zwar nichts über das Schicksal von Roma berichten, wohl aber über ein anderes Großverbrechen, das im zeitlichen und politischen Kontext des Zweiten Weltkrieges vor ihrer Haustür geschehen ist: Die Verschleppung und Ermordung von Jüdinnen und Juden, die aus Odessa nach Slipucha gebracht worden waren und dort einen Tag nach ihrer Ankunft von deutschen Soldaten ermordet wurden.
Sie zeigte uns die Stelle, an der die Juden ermordet wurden. Die zuständigen Behörden hätten auf ihre Vorschläge, dort ein Denkmal zu errichten, bislang nicht reagiert. Allerdings hat sich aufgrund unserer Berichte nach der Recherchereise voriges Jahr der Rabbi der nächsten Kreisstadt Mikolaiv eingeschaltet, um der Angelegenheit nachzugehen. Eigentlich wollte er unsere Gruppe an diesem Tag in Slipucha treffen – der Taxifahrer hatte sich aber verfahren, so dass er nun in den nächsten Wochen selbständig mit der Zeitzeugin zusammentreffen will.
Mittwoch, 25. Mai
Vormittags fand in Beresiwka ein Gespräch mit dem Vertreter der Gebietsverwaltung statt, bei dem es um die heutige Lebenssituation der Roma ging. Die Gebietsverwaltung ist erst seit Monaten im Amt und hat noch keinerlei Konzepte zur Integration der Roma entwickelt. Diese seien insbesondere von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Bei dem Gespräch war ebenfalls ein Vertreter der Lokalzeitung anwesend, der über das Treffen berichtete.
Danach wurde eine ukrainische Romnij interviewt, die schon während des Zweiten Weltkrieges in Beresiwka gelebt hatte. Sie schilderte uns ebenfalls Massenerschießungen und andere Mordaktionen durch deutsche Soldaten.
Anders als es von der historischen Forschung überliefert ist – derzufolge die ortsansässige Roma-Bevölkerung in der Regel unbehelligt blieb – sprach sie ausdrücklich davon, dass die deutschen Soldaten sowohl Juden als auch (ortsansässige) Roma erschossen hätten.
Nachmittags fuhren wir nach Kosirka, einer Ortschaft am Bug. Dort wurde 1942 ein Teil der ukrainischen Bevölkerung gezwungen, ihre Häuser zu räumen, in die dann deportierte Roma untergebracht worden waren. Wir interviewten eine Ukrainerin, die von dieser Zwangsräumung betroffen war und die uns die der Deportierten schilderte. Diese hätten weder Arbeit gehabt noch seien sie von der rumänischen Armee versorgt worden. Die einheimischen Ukrainer hätten zwar versucht zu helfen, aber selbst nicht viel gehabt.
Im Anschluss an dieses Interview fuhren wir schließlich an das Ufer des Bug, der damals die Grenze zwischen dem (östlich gelegenen) deutsch besetzten Reichskommissariat Ukraine und der rumänischen Verwaltungszone („Transnistrien“) bildete. Unser ukrainischer Partner Niko Rergo ging dort noch einmal auf die historischen Ereignisse ein. Am späten Abend brachen wir schließlich nach Odessa au
Donnerstag, 26. Mai
Vormittags besichtigten wir gemeinsam mit Niko Rergo das Holocaust-Mahnmal, das auch eine Inschrift zur Erinnerung an den Genozid an Roma enthält. Für diesen wird dort allerdings das allenfalls in der westlichen Welt gebräuchliche Wort „Porajmos“ verwendet, was von unseren TeilnehmerInnen einhellig abgelehnt wird. Es entspann sich eine längere Diskussion, in der Niko Rergo die Entstehungsgeschichte des Mahnmals sowie der Inschrift erläuterte. Es handle sich um die privat finanzierte Initiative eines jüdischen Überlebenden, der örtliche Roma-Aktivisten eingeladen habe, einen Text zu formulieren. Aufgrund eines Missverständnisses sei schließlich das auch von Rergo abgelehnte Wort „Porajmos“ in den Stein graviert worden. Bei aller Kritik an diesem Begriff wolle er nicht so weit gehen, die Texttafel entfernen zu lassen. Für eine Änderung der Inschrift fehlten der lokalen Roma-Community schlicht die finanziellen Mittel.
Nachmittags wurde das jüdische Holocaust-Museum besucht. Auch wenn hier – ähnlich wie beim Holocaust-Museum in Bukarest – ausschließlich Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung thematisiert werden, vermittelt das Museum einen anschaulichen Eindruck von den Lebensumständen im Ghetto und dem politischen Kontext des Genozids.
Im Anschluss an die Museumsführung begann der erste Teil des abschließenden Workshops. In diesem wurde zunächst von allen TeilnehmerInnen die wesentlichen Eindrücke der Projektreise zusammengefasst.
Freitag, 27. Mai
Niko Furtuna, der bereits den einleitenden Workshop in Bukarest geleitet hatte, stieß nun auch wieder zum abschließenden Workshop dazu. Er fasste noch einmal historische Daten und Fakten und die wesentlichen Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zur Erinnerungskultur der Roma zusammen. Die TeilnehmerInnen erhielten die Aufgabe, sich Stichworte zu verschiedenen Themengebieten der Ausstellung zu notieren, die noch zu erarbeiten ist.
Nachmittags wurden diese Stichworte gemeinsam besprochen. Außerdem wurde vereinbart, wer welche Textentwürfe für die Ausstellung schreibt, und es wurden Verabredungen für die Transkription der Interviews getroffen.
Abends wurden sämtliche TeilnehmerInnen vor laufender Kamera um kurze Einschätzungen des Reiseverlaufs gebeten. Zu unserer Erleichterung äußerten alle, eine Menge gelernt zu haben und vor allen den Zeitzeugen stark beeindruckt zu sein. Wie auch bereits im Workshop zeigten die TeilnehmerInnen zum Schluss der Projektreise eine hohe Motivation, weiter am Thema zu arbeiten.
Zwischenbilanz der Projektleitung
Die Ziele der Projektreise konnten größtenteils erreicht werden:
Es haben junge Roma und Nicht-Roma aus mehreren Ländern teilgenommen. Die während der Recherchereise identifizierten Zeitzeugen konnten erneut befragt werden. Leider gilt dies nicht für Moldau. Die dort zunächst angemeldeten Teilnehmern mussten kurzfristig absagen, und die Termine mit Überlebenden mussten entfallen.
Wir haben allerdings den Eindruck, dass die Aussagen der Zeitzeugen und auch die Anschaulichkeit ihrer Schilderungen im Vergleich zur Recherchereise weniger umfassend waren. Wir führen dies auf drei Faktoren, die je nach konkreter Person unterschiedlich zu gewichten sind, zurück: Eine gewisse Scheu, vor einer derart großen Gruppe zu sprechen, eine gewisse Ermüdung, weil die Zeitzeugen keine Interviews gewohnt sind und im Wesentlichen das Gleiche bereits vorigen Sommer erzählt haben, und Defizite in der Interviewführung der Fragetechnik der InterviewerInnen. Trotz dieser Einschränkungen waren die Aussagen der ZeitzeugInnen, wie alle TeilnehmerInnen berichteten, immer noch sehr eindrucksvoll. Für die Ausstellung werden wir sowohl die Transkripte dieser Projektreise als auch jene der Recherchereise verwenden.
Sämtlichen TeilnehmerInnen konnten historische Kenntnisse und Kenntnisse über die Erinnerungskultur in den jeweiligen Ländern vermittelt werden, die sie zuvor nicht hatten.
Die TeilnehmerInnen zeigten während der gesamten Reise eine hohe Bereitschaft zur Mitarbeit. Dies äußerte sich in der Vorbereitung und Durchführung von Interviews, aber auch in der Bereitschaft, vorhandene Kenntnisse etwa im filmischen Bereich einzusetzen und bei den Videoaufnahmen zu helfen. Besonders positiv und wichtig ist, dass alle zugesagt haben, sich weiterhin im Rahmen der Erarbeitung der Ausstellung für das Projekt zu engagieren.
Bedauerlich aus unserer Sicht ist allerdings, dass die TeilnehmerInnen trotz mehrfacher Aufforderung nicht bereit waren, eine Art Tagebuch über die Projektreise zu verfassen und auf dem Blog oder der Facebookseite zu posten. Damit ist es leider nicht gelungen, möglichst mehrsprachig eine größere Öffentlichkeit über die einzelnen Punkte der Projektreise zu informieren. Aufgrund der ansonsten hohen Arbeitsmotivation der TeilnehmerInnen und deren positiver Rückmeldungen gehen wir allerdings nicht davon aus, dass das Fehlen dieser Tagesberichte auf Unzufriedenheit mit dem Reiseverlauf zurückzuführen ist. Womöglich waren die TeilnehmerInnen von der Fülle des Erlebten einfach erschlagen und außerstande, jeweils ein kurzes Fazit zu erstellen. Die G ründe hierfür werden wir noch in Einzelgesprächen versuchen, zu identifizieren.
Positiv zu vermerken ist aus unserer Sicht zudem, dass sich insbesondere in der Ukraine auch Politiker und Medien mit dem Thema beschäftigen und bereit waren, uns zu empfangen. In Krasnenke hat allein die Ankündigung unseres Besuchs dafür gesorgt, dass an der örtlichen Schule dieser Aspekt der Geschichte beleuchtet wurde.