»Wenn die Deutschen sie sahen, dann schossen sie auf die Frauen«
Wiktor Wladimirowitsch Muratschkowski, geb. 1963
In der Familie von Wiktor Wladimirowitsch wurde die Erinnerung an den Völkermord maßgeblich in Form eines Liedes erhalten: Ein Onkel wurde gemeinsam mit seiner Frau und seinem Kind von einer Erschießung verschont, nachdem er die Deutschen mit einem Lied überzeugt hatte, ihn nicht zu erschießen. Wiktor Wladimirowitsch berichtet auch über die besondere Rolle der Frauen, denen meist die Aufgabe zukam, in Dörfern Lebensmittel zu besorgen.
Die Roma haben gleich zu Beginn des Krieges erfahren, dass die Deutschen sie und die Juden ausrotten wollen. Als die ersten Familien, auch die Frauen, erschossen wurden. Viele Roma flohen in die Sümpfe und Wälder. Die Deutschen hatten Angst, ihnen dorthin zu folgen, und so blieben die Roma am Leben. Aber natürlich mussten sie manchmal ins Dorf, um Lebensmittel zu holen. Sie pflügten die Felder und bekamen dafür Kartoffeln. Oftmals ging nicht der ganze Tabor in die Dörfer, sondern nur einige Frauen. Ein paar von der einen Seite, ein paar von der anderen, damit es nicht so auffiel. Die Dorfbewohner haben die Roma nur sehr selten an die Deutschen verraten. Sie waren meist gutherzig zu den Roma.
Aber wenn die Deutschen sie sahen, dann schossen sie auf die Frauen. Es war ja nicht schwer für die Deutschen, sie an ihrer Kleidung zu erkennen. Und wenn eine Frau im Dorf wahrsagte, wussten die Deutschen, dass irgendwo in der Nähe ein Tabor ist.
Und so wurde eines Tages der Tabor meines Onkels festgenommen. Mein Vater erzählte mir davon. Der Tabor war in der Gomeler Region, im Bezirk Kostjukowitschi.
Alle wurden an die Wand gestellt, um sie zu erschießen. Auch seine Frau, sein kleines Kind, seine Eltern, Brüder und Schwestern. Dieser Onkel konnte gut singen. Und er bat einen deutschen Offizier, zum letzten Mal ein Lied singen zu dürfen. Der Offizier erlaubte das.
Da mein Onkel sehr klein war, stieg er auf einen Baumstumpf und sang. Dem Offizier hat das gefallen, und er beschloss, das Leben des Onkels zu verschonen. Aber mein Onkel wollte nicht alleine bleiben. Und er hat den Offizier gebeten: »Du hast mir das Leben gerettet, rette noch das Leben einer anderen Person«.
Der Offizier antwortete: »Du kannst eine Person aus der ganzen Familie wählen«. Und er wählte seine Frau und das Kind. Die anderen wurden direkt vor seinen Augen erschossen.
Der Onkel bekam später noch weitere Kinder und Enkel. Und jedes Mal, wenn die Familie an Feiertagen zusammenkam, stand mein Onkel auf und sang dieses Lied. Er sang es das ganze Leben, nur an den Feiertagen. Es geht darin um Familie, Freunde und Verwandte. Ich habe ihn selbst singen hören. Deshalb habe ich von allen Erzählungen über den Krieg diese am besten behalten.