»An der Grube schubste mich meine Mutter zu ihrer Schwester«

Pawel Jewmenowitsch und Grigorij Pawlowitsch Gorbunow

Pawel Jewmenowitsch Gorbunow
Pawel Jewmenowitsch Gorbunow, geb. 1930
Grigorij Pawlowitsch Gorbunow
Grigorij Pawlowitsch Gorbunow, geb. 1965

Pawel Jewmenowitsch entkam als Kind einer Massenerschießung, indem eine als »Russin« geltende Tante ihn als ihren Sohn ausgab. Seine Mutter wurde hingegen erschossen. Das Interview wurde von seinem Sohn Grigorij Pawlowitsch unterstützt, der darüber berichtet, wie er selbst Recherchen über das Schicksal seiner Familie angestellt hat.

Pawel Jewmenowitsch

Meine Familie lebte im Dorf Koschany, das liegt in Russland. Wir waren sesshaft und wohnten in unseren eigenen Häusern. Wir besaßen Höfe, auch Waldstücke. 1936 hat man meinen Großvater enteignet, weil er als sog. Kulak galt. Er wurde deportiert.

Als die Deutschen kamen, hatten wir Roma keine Ahnung, dass wir vernichtet werden sollten. Ungefähr an Ostern 1942 mussten wir nach Klintsy gehen. Die Polizei spürte uns für die Deutschen auf. Die Polizisten wussten ja, wo die Roma wohnen. An die 40 oder 50 Menschen gingen nach Koschany, die einen zu Fuß, die anderen mit Pferdekarren.

Man hat uns dann weggeführt, um uns zu töten. Kann sein, dass die Deutschen dachten, die Roma seien Partisanen. Es gab solche Gerüchte, dass sie alle eine Verbindung zu den Partisanen hatten.

„Im Frühjahr 1942 kam es in Klintsy zu einer Massenerschießung von 300 ‚Juden und Zigeunern‘, was zuschauenden Soldaten ‚missfallen’ haben soll. Darüber hinaus meldete das Sonderkommando 7a im März 1942 die Ermordung von 45 ‚Zigeunern‘, während eine Nachhut des Kommandos in der zweiten Aprilwoche im selben Raum noch einmal 30 ‚Zigeuner‘ ermordete.“

Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941-1944); Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma von Martin Holler S.62 / Link

Als wir bereits an der Grube standen, schubste mich meine Mutter zu ihrer Schwester Uljana. Die war im ganzen Dorf bekannt, alle nannten sie »Russin«, weil sie so eine helle Haut hatte. Genau wie ich selbst. Und Tante Uljana sagte den Deutschen: »Ich bin Russin, und das ist mein Sohn.« So wurden wir verschont. Die anderen wurden erschossen, auch meine Mutter und mehrere Geschwister meines Vaters.

Uljana hat mir später erzählt, dass sie einige Tage später zur Erschießungsstelle ging. Dort waren einige noch am Leben. Sie erzählte, die Erde habe sich drei Tage danach noch bewegt.

Einen der Polizisten, die damals die Roma bewachten, hat Uljana viele Jahre später hier auf der Straße erkannt, in den 1970er Jahren. Und sie fing an zu schreien. Wenn sie nicht geschrien hätte, sondern die Polizei gerufen hätte, wäre er festgenommen worden. Aber sie schrie, sie raufte sich die Haare. Und er rannte weg. So entging er seiner Strafe

Rada Pawlowitschs
Auch Grigorij Pawlowitschs Schwester Rada nahm Anteil an unserem Projekt. Hier präsentiert sie ein Foto ihres Bruders in jungen Jahren.

Grigorij Pawlowitsch Gorbunow

Ich bin ein paar Mal nach Koschany gefahren und habe mit den Bauern dort geredet. Sie erinnerten sich an all diese Ereignisse. Und sie haben immer davon gesprochen, dass die Roma eine Russin entführt hätten. Ich habe erst nicht verstanden, was sie da sagen. Irgendwann stellte sich dann heraus, dass sie von Tante Uljana sprachen. Die lebte ja bei den Roma, aber weil sie den Russen so ähnlich sah, glaubten die Bauern, sie sei entführt worden.

Nach dem Krieg versammelten sich hier im Gomeler Gebiet viele Roma aus anderen Regionen. Wenn zum Beispiel einer in der Ukraine lebte, wo seine Verwandten alle erschossen wurden, wohin sollte er? Man hörte, dass es irgendwo viele Roma gibt, zum Beispiel in Belarus, und so ging man dorthin. Aus der Ukraine, aus Russland kamen sie hierher.

Fotoalbum der Familie Gorbunow
Fotoalbum der Familie Gorbunow