»Sah man Deutsche, lief man schnell davon«
Nikolaj Afanasowitsch Jewdokimow, geb. ca. 1933
Nikolaj Afanasowitsch berichtet über seine beiden Brüder, die den Partisanen beitreten wollten, und warum nur einer aufgenommen wurde. Seine Familie lebte später in einem Familienlager, gemeinsam mit russischen und jüdischen Schutzsuchenden.
Anfangs haben uns die Deutschen nichts angetan. Aber dann kamen sie, irgendwann im Frühjahr, und nahmen uns die Pferde und das Vieh weg. Und im Sommer darauf haben sie angefangen, uns zu töten. Wir haben Berichte gehört, dass unweit von Gomel, direkt an einer Landstraße, deutsche Soldaten Frauen aus Roma-Familien erschossen. Darunter war auch die Mutter meiner späteren ersten Ehefrau.
Ihr Vater wurde festgenommen, er saß im Gefängnis in Bobrujsk, mit vielen anderen Roma, und auch Russen. Die Deutschen, diese Bestien, haben sie bewacht. Aber ein Rom hat es geschafft, den Wachposten zu täuschen: Er sagte ihm, dass in der Zelle einer stirbt, der Deutsche machte die Tür auf – und zack, der Rom packte den Deutschen und erwürgte ihn… Alle flohen Richtung Gomel.
Aber als die Frauen ihn holen wollten, wurden sie 20 Kilometer vor Gomel von einer Strafeinheit der Deutschen erwischt und erschossen. Als die Deutschen anfingen, die Roma zu erschießen, ging mein Bruder Wolodja zu den Partisanen. Er war bei der Einheit »Nikolaj Gastello«.
Um von den Partisanen aufgenommen zu werden, musste man eine sogenannte Zunge mitbringen. So nannte man es damals, wenn man einen Gefangenen mitbrachte. Mein Bruder hat so jemanden mitgebracht. Einen Russen, der für die Deutschen arbeitete. Und so konnte sich mein Bruder den Partisanen anschließen. Dort hat er gekämpft. Er hat 12 Züge in die Luft gejagt. Mein ältester Bruder Wanja wollte auch zu den Partisanen, aber sie nahmen ihn nicht. Denn unsere Eltern waren schon alt, und es gab sonst niemanden, der uns beschützte. Deswegen sollte Wanja bei uns bleiben. Später kamen meine Eltern mit uns und den anderen Kindern nach. Es gab ein Familienlager in der Nähe des Partisanenlagers. Dort waren auch Russen und einige wenige Juden. Es gab kaum etwas zu essen. Wenn die Partisanen Kühe mitbrachten, gab es etwas. Man musste stehlen gehen, Korn und verfaulte Kartoffeln auf dem Feld sammeln. Man ging auch ins Dorf, etwas kaufen oder erbetteln. Aber nur im Dunkeln. Sah man Deutsche, lief man schnell davon. Man wäre erschossen worden.
Nach dem Krieg war es andersrum. Die Deutschen arbeiteten dann hier bei uns in Gomel, also die Kriegsgefangenen. Es gab viele von denen. Sie mussten Gomel wieder aufbauen. Unsere Leute taten denen nichts an, sie haben sie nicht getötet. Man gab ihnen zu essen. Als ich älter wurde, interessierte ich mich für die Geschichten, die ältere Roma über den Krieg erzählten. Ich erfuhr, dass die Nazis unser stolzes und freiheitsliebendes Volk zerstören und vom Erdboden wischen wollten. Und leider haben sie es größtenteils zerstört.
Für manche Interviewpartner war der Kontakt mit einem deutschen Rechercheteam nicht einfach. Mitunter war es die erste Begegnung mit Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Während wir sonst vor jedem Interview das Projekt erläuterten, ist dies bei Nikolaj Afanasowitsch Jewdokimow aufgrund eines Missverständnisses innerhalb des Projektteams nicht geschehen.
Der Interviewpartner ging zu Beginn des Interviews davon aus er spräche mit Russ:innen, und reagierte schockiert, als er erfuhr, dass sie Deutsche waren.
Wir geben den nachfolgenden Dialog mit seiner Frau Natascha wieder, die beim Interview unter- stützte.
Dieser Dialog wurde nicht sofort übersetzt, so dass die deutschen Projektmitglieder von dem Zwischenfall erst nach dem Interview erfuhren.
„Nikolaj Afanasowitsch: Sind das Deutsche? Sind das Deutsche? Raus aus dem Haus!
Natascha: Ruhig, ruhig. Das ist ein deutsches Projekt, das sich mit der Geschichte des Genozid an Roma beschäftigt. Sie haben so etwas schon in Rumänien und in der Ukraine gemacht. Sie wollen, dass die Menschen über das Thema Bescheid wissen.
Nikolai Afanasowitsch: Raus!
Natascha zum Projektteam: Man hätte das sofort sagen müssen, weil die Reaktion… Sie sehen ja. Er hat den Krieg überlebt, und es ist sehr schwer, sich daran zu erinnern. Deswegen sollten Sie sich nicht beleidigt fühlen.
Zum Ehemann: Ganz ruhig, okay? Es gibt unterschiedliche Menschen. Diese Menschen sind nicht daran schuld, was früher geschah. Sie wollen nun, dass alle erfahren, was während des Zweiten Weltkrieges geschah.
Nikolaj Afanasowitsch willigte in die Fortsetzung des Interviews ein und bat seine Frau, den Gästen Brote und Tee aufzutischen.“