Genozid an Rom:nja in Belarus: …offene Fragen
In einem Lagebericht leitender Feldpolizeidirektoren vom 25. 8. 1942 an alle Heeresgruppen werden diese Massenmorde an Unschuldigen offen gefordert: »Würde nur ein Teil dieser Zigeuner bestraft werden, die als Helfer von Freischärlern verdächtigt werden oder überführt worden sind, dann würden sich die anderen nur noch feindseliger gegenüber den deutschen Truppen verhalten und die Unterstützung der Freischärler erheblich zunehmen. Daher ist es notwendig, diese Banden schonungslos auszumerzen.«
Soweit die Deutschen ihre Mordaktionen erfassten, wurden oftmals nur sehr allgemeine Angaben zu den Opfern gemacht. Wenn etwa die Einsatzgruppe B im Oktober 1941 die »Sonderbehandlung« von 812 Personen meldete, die sie als »rassisch und geistig minderwertige Elemente« bezeichnete, oder als »Saboteure und Plünderer«, ist anzunehmen, dass unter diesen Opfern auch Rom:nja waren; ebenso, wenn die Erschießung »ortsfremder« Personen berichtet wird.
Zahlreiche Überlebenden-Berichte deuten darauf hin, dass Deutsche bei der Ermordung von Rom:nja eine besondere Brutalität an den Tag legten: Frauen wurden vor den Augen ihrer Angehörigen vergewaltigt, Eltern mussten die Ermordung ihrer Kinder ansehen, Jugendliche mussten neben den Leichnamen ihrer Eltern singen und tanzen. Manche Rom:nja interpretieren dies als Versuch, nicht nur das Leben einzelner Rom:nja, sondern ihre ganze Kultur zu zerstören.
Zu den bis heute offenen Forschungsfragen gehört, inwiefern die deutschen Besatzer einen Unterschied zwischen nomadisch lebenden und sesshaften Rom:nja gemacht haben. Sowohl in der Besatzungsverwaltung als auch innerhalb der Nazi-Führung war man sich in dieser Frage uneins. Ein Befehl des Militärbefehlshabers der Heeresgruppe Nord vom 21. 11. 1941 sah beispielsweise vor, »herumziehende Zigeuner dem nächsten Einsatzkommando der SS zuzuführen«, hingegen »sesshafte Zigeuner, die bereits 2 Jahre an ihrem Aufenthaltsort« wohnten und als »politisch und kriminell unverdächtig« eingestuft sind, dort zu »belassen«.
Der Historiker Martin Holler schreibt dazu: »Inwieweit in der Praxis tatsächlich zwischen so genannten ›herumtreibenden‹ und sesshaften ›Zigeunern‹ unterschieden wurde und welches Ausmaß die Vernichtung erreichte, lässt sich durch die spärlich überlieferten deutschen Quellen kaum nachvollziehen.«
Sicher ist jedenfalls, dass sesshafte Rom:nja keineswegs generell verschont wurden. Dies zeigen auch Beispiele aus den – besser erforschten – Besatzungsbereichen in Russland und der Ukraine, wo sesshafte Rom:nja systematisch aufgespürt und ermordet wurden. In Belarus gibt es zu dieser Frage bislang nur wenige Untersuchungen. Es sind aber mehrere Fälle bekannt – auch Zeitzeug:innen berichteten uns darüber – in denen auch sesshafte Rom:nja von den Deutschen festgenommen und ermordet wurden. Die Überlebende Galina Iwanowna sprach davon, es habe nahe Oschmjany eine Revision der Pässe der örtlichen Bevölkerung gegeben. In den Dokumenten war damals die ethnische Zugehörigkeit der Inhaber ausgewiesen. Infolge der Maßnahme seien 43 sesshafte Rom:nja sowie ein Jude erschossen worden.
Der jüdische Zeitzeuge Jewgenij Aleksejewitsch Chrol, der als Kind mit seiner Schwester und Großmutter ins KZ Mauthausen verschleppt worden war, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Genozid an Rom:nja.
Er berichtete uns, dass in Drosdy auch 400 Rom:nja, Angehörige mehrerer von den Deutschen aufgegriffener Tabors, interniert gewesen seien:
»Sie waren erschöpft, sie hatten Hunger und Durst. Der Fluss Swislotsch floss in der Nähe, und irgendwann eilten die Leute ans Ufer, um Wasser zu trinken. Die Deutschen fingen an, mit Maschinengewehren zu schießen. Alle wurden erschossen.«
Diese Informationen beruhen auf mündlichen Angaben, Dokumente zu diesem Massaker liegen nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass auch viele andere Massaker nicht schriftlich festgehalten wurden. Dies ist einer der Gründe, warum die genaue Opferzahl von Rom:nja nicht zu ermitteln ist.