Erinnerung und Aufarbeitung in der Ukraine und Moldau
Zeitzeug:innen
Hintergründe
Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze
Projekt
Ukraine: Passiver Staat Erinnerungsarbeit als Privatsache
2004 führte das ukrainische Parlament den „Internationalen Tag des Gedenkens an den Roma-Holocaust“ ein und schuf damit die Grundlage des staatlichen Gedenkens an diesen Völkermord. Allerdings wurden nur wenige der vorgesehenen Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt. Die örtlichen Behörden beteiligen sich an Gedenkveranstaltungen meist nur dann, wenn sie von Nichtregierungsorganisationen vorgeschlagen und durchgeführt werden.
Ein Hindernis für ein umfassenderes Gedenken an den Völkermord an Rom:nja besteht darin, dass es unter ukrainischen Wissenschaftlern keinen Konsens über das Wesen der Nazipolitik gegenüber den Rom:nja gibt. Weder in der Sowjetunion noch nach deren Ende gab es wissenschaftliche Untersuchungen zum Schicksal der Rom:nja. Das führte dazu, dass in der Öffentlichkeit immer noch die verkürzte Auffassung herrscht, die Rom:nja seien deswegen massenweise ermordet worden, weil sie als „asoziale Elemente“ gegolten hätten. Damit geht die Gefahr einher, dass den Opfern eine Teilschuld an ihrem Schicksal zugeschrieben wird. Erst in der jüngsten Vergangenheit beginnt sich diese Situation zu ändern.
In Schulbüchern wird heute der Holocaust als „Massenvernichtung des jüdischen Volkes während des Zweiten Weltkrieges“ beschrieben. Diese Definition wird ergänzt durch Angaben über die von den Nazis angestrebte Neue Ordnung“, die darauf gezielt habe, „minderwertige Völker“ wie Juden, Roma und Slawen zu vernichten. Der Begriff „Roma“ (selten: „Zigeuner“) kommt in fast allen Schulbüchern vor, aber die rassistische Politik der Nazis wird meist dahingehend missverstanden, sie hätten alle anderen Ethnien vernichten wollen. Und selbst da, wo sie sich mit dem Genozid an Roma beschäftigen, erwähnen die Autoren ihn nur kurz und arbeiten nicht den rassistischen Kern der Nazipolitik heraus. Das Schicksal der Rom:nja wird ausgelagert: Es gilt als Teil der allgemeinen Geschichte, aber nicht als Teil der ukrainischen Vergangenheit. Es bleibt somit der Zivilgesellschaft überlassen, Kenntnisse über den Völkermord an Rom:nja zu verbreiten. Die Regierungseinrichtungen dulden dies, bleiben aber selbst passiv. Auch im Bildungswesen bleibt der Völkermord an Rom:nja nur ein Randthema. Nur wenige Denkmäler erinnern an die ermordeten Rom:nja, und fast immer gingen die Initiativen dafür von Nichtregierungsorganisationen aus. Die Rolle der staatlichen Behörden dagegen beschränkte sich darauf, die Baugenehmigungen auszustellen und an den Eröffnungszeremonien teilzunehmen. Roma-Gemeinden und Einzelpersonen waren in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Akteure der Erinnerungsarbeit an den Rom:nja-Genozid in der Ukraine.
Moldau: „Der vernachlässigte Holocaust der bessarabischen Rom:nja“
Sehr viel Archivmaterial ist entweder spurlos verschwunden oder bleibt unerforscht. Wegen der „politisch komplexen Sensibilität“ wird das Thema kaum in den Schulen angesprochen. Aber das derzeitig wichtigste Problem des „vernachlässigten Holocaust“ (so die Bezeichnung moldauischer Roma-Aktivisten für den Völkermord) besteht darin, dass die Zeitzeugen dieses Genozids sterben und die spärlichen Erinnerungen mit sich nehmen.
Für die derzeitige Etappe ist das Videomaterial, welches von den letzten lebenden Zeitzeugen gesammelt wurde, besonders wichtig. Die erhaltenen Reste der Erinnerungen fokussieren sich besonders auf die Themen Hunger, Kälte, Epidemien, „langes Umherirren“, Tod unschuldiger Kinder, permanente Erniedrigung und Misshandlung der jungen Mädchen, leere Steppe, „erzwungene schamhafte Nacktheit“. Deswegen ist das Sammeln, Verarbeiten und Präsentieren von Feldmaterial, welches fragmentarisch in Kindheitserinnerungen der lebenden Zeitzeugen des „Roma-Holocausts“ in Transnistrien erhalten ist, unabdingbar zum Erhalten wichtiger historischer Quellen.
Das Problem der Darstellungen in moldauischen Lehrbüchern liegt darin, dass das Thema stark politisiert ist. Einige rumänische Historiker, welche die Taten des „Marschalls der Befreiung Ion Antonescu“ zur Zeit des Zweiten Weltkriegs rühmen, versuchen absichtlich, diese unangenehme Thematik zu umgehen. Andererseits haben auch die Autoren der sowjetischen Geschichtswerke nur die Taten der Helden beschrieben, welche mutig „im Namen der Errichtung der lichten Zukunft“ kämpften. Die Leiden der Zivilbevölkerung einschließlich der Rom:nja sind dagegen außer Acht gelassen worden.
Damit eine ähnliche Tragödie sich nicht wiederholt, sollte die junge Generation sich tief mit den Ursachen und Wirkungen dieser diskriminierenden Politik gegenüber den Rom:nja befassen. Für Teile der heutigen Jugend bleibt Ion Antonescu womöglich auch weiterhin der „Märtyrerheld“, doch für die Rom:nja, welche den Holocaust überlebten, erscheint er als ein Kriegsverbrecher, der vollkommen zurecht die entsprechende Strafe erhielt. Um künftig antiziganistische Stimmungen in der Gesellschaft vermeiden zu können, ist es besonders wichtig, einen Lehrplan in die Disziplin „Interkulturelle Erziehung“ zu implementieren, der auch ein Kapitel über den vernachlässigten „Holocaust der Roma“ enthält.