Antiziganismus:
Vernichtung und Ausgrenzung
Zeitzeug:innen
Hintergründe
Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze
Projekt
In vielen europäischen Ländern, darunter auch Rumänien und Deutschland, sind (einheimische) Sinti:zze und Rom:nja als nationale Minderheit anerkannt. Dennoch ist ihr Alltag auch 70 Jahre nach dem faschistischen Völkermord von Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt.
Sinti:zze und Rom:nja gehören zu den am wenigsten tolerierten Minderheiten. Sie sehen sich, in unterschiedlichem Ausmaß, in allen europäischen Ländern zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt. Ihr Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und dem Gesundheitswesen ist erheblich eingeschränkt. Sinti:zze und Rom:nja sind von Armut und Analphabetismus erheblich schwerer betroffen als die Mehrheitsbevölkerung.
Einen Bericht zur Lage der Rom:nja in Europa fasste die Europäische Grundrechteagentur 2011 folgendermaßen zusammen:
„Die Ergebnisse sind in vielfacher Hinsicht schockierend. Obwohl die Regierungen und die Bevölkerung sich über die Ausgrenzung und Benachteiligung von Roma im Klaren sind, ist das Ausmaß und die Gleichartigkeit von Ausgrenzungsmustern in den EU-Mitgliedstaaten eklatant und bietet keine Rechtfertigung dafür, rasche und effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu verzögern.“
Obwohl mehrere Menschenrechtsbestimmungen – in der Theorie – Sinti:zze und Rom:nja den gleichen Zugang zu Rechten und Pflichten garantieren, stellte die EU-Kommission 2011 fest:
„Viele der geschätzt 10-12 Millionen Roma in Europa sehen sich in ihrem Alltag Vorurteilen, Intoleranz, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Sie sind marginalisiert und leben in sehr ärmlichen sozio-ökonomischen Umständen. Das ist in der Europäischen Union am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht akzeptabel.“
Im Durchschnitt leben 90 Prozent der Rom:nja in Haushalten, deren Einkommen unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze liegt. Ungefähr 45 Prozent der Rom:nja leben in Haushalten, in denen mindestens ein grundlegendes Ausstattungsmerkmal fehlt, insbesondere Innenküche, Innentoilette, Innenbad oder Elektrizität.
In Rumänien ist nur ungefähr die Hälfte der Rom:nja krankenversichert (aber 80 Prozent der Nicht-Rom:nja). Die Frage, ob in ihrem Haushalt innerhalb des letzten Monats jemand hungrig zu Bett gehen musste, wurde von 60 Prozent der Rom:nja bejaht. Die gleiche Frage mussten hingegen nur 10 Prozent der Nicht-Rom:nja bejahen. Weniger als 30 Prozent der Rom:nja können im Alter eine Rente erwarten, gegenüber 75 Prozent der Nicht-Rom:nja.
In Deutschland stellte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014 fest:
„Sinti und Roma werden von einem beträchtlichen Teil der deutschen Mehrheitsbevölkerung nicht als gleichberechtigte Mitbürger und Mitbürgerinnen wahrgenommen. Unwissenheit und in Teilen offene Ablehnung prägen die Einstellungen gegenüber dieser seit Jahrhunderten in Europa lebenden Minderheit. 19 Prozent der Befragten haben eine dezidiert negative Einstellung gegenüber Sinti und Roma. Im Vergleich zu anderen Minderheiten wird ihnen die geringste Sympathie entgegengebracht, sie sind am wenigsten als Nachbarn und Nachbarinnen erwünscht und ihr Lebensstil wird als besonders abweichend eingeschätzt.“
Eine Umfrage des Rumänischen Antidiskriminierungsrates ergab 2015, dass 40 Prozent der Befragten Rom:nja als „Problem“ sahen. 21 Prozent gingen noch weiter und nannten Rom:nja ausdrücklich eine „Gefahr“.
Antiziganismus bekämpfen: Remember to resist!
Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) bezeichnete 2011 Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus gegen Rom:nja.
Antiziganismus sei eine „Ideologie, die auf rassischer Überlegenheit gründet, eine Form der Entmenschlichung […] die auf historischer Diskriminierung basiert, die sich unter anderem in Gewalt, Hass-Sprache, Ausbeutung, Stigmatisierung und den krassesten Formen der Ungleichbehandlung ausdrückt.“
Antiziganismus ist tief in unserem historischen Erbe verwurzelt. Seit ungefähr 1000 Jahren werden die in Europa lebenden Sinti:zze und Rom:nja stigmatisiert, missbraucht, missverstanden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie wurden als Sündenböcke für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht. Die Ideologie dahinter basiert auf der Annahme grundlegender Unterschiede zwischen „denen“ und „uns“. Diese Annahme wiederum dient dazu, sich den „anderen“ gegenüber moralisch überlegen zu fühlen und ihnen die fundamentalsten Menschenrechte zu verweigern. In der Politik führt dies bisweilen gar dazu, den Rom:nja das Menschenrecht auf Leben abzusprechen.
Maßnahmen des Staates und der Zivilgesellschaft, die Benachteiligung von Rom:nja zu bekämpfen, können nur erfolgreich sein, wenn sie gemeinsam mit Rom:nja geplant und durchgeführt werden. Das erfordert zwingend den Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierung. In Rumänien mussten Rom:nja bis 1856 über 500 Jahre lang in Sklaverei leben. Während des Zweiten Weltkrieges betrieben Nazi-Deutschland und seine Verbündeten die Vernichtung der Rom:nja. Diese Verbrechen anzuerkennen und ins gesellschaftliche Bewusstsein zu bringen, ist nicht nur eine moralische Pflicht der Mehrheitsbevölkerung, sondern eine Voraussetzung dafür, offen und vertrauensvoll zusammen zu arbeiten und zusammen zu leben. Die Erinnerung an den Genozid kann als Mahnung dienen, die den Nachkommen der Täter ihre eigene Verantwortung für das Zusammenleben vor Augen führt, und sie für jegliche Formen von Rassismus und Ausgrenzung sensibilisiert.
Aus Protest gegen die drohende Abschiebung besetzen dutzende Rom:nja-Aktivist:innen das Mahnmal für die während des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma.
In Zusammenhang mit Plänen, aus den Balkan-Staaten geflohene Rom:nja wieder aus Deutschland abzuschieben, warnen Menschenrechtsaktivisten vor einem Wiederaufleben des Antiziganismus und erinnern an die historische Verantwortung Deutschlands für die Nachfahren der Opfer des Völkermords. Berlin, 22. 5. 2016.