Leben der Rom:nja vor dem deutschen Überfall auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Belarus und Russlands


Erstmals erwähnt wurden Rom:nja in einem Schreiben des litauischen Großfürsten Alexander, der 1501 auf deren „althergebrachten Rechte“ hinwies, innerhalb des Staates zu wandern. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte versuchten die verschiedenen Mächte zwar immer wieder, Rom:nja zur Sesshaftigkeit zu verpflichten, ein Großteil von ihnen widersetzte sich jedoch diesem Druck. Gewaltexzesse wie in anderen Regionen Europas, in denen Rom:nja als „vogelfrei“ erklärt oder versklavt wurden, gab es weder in der litauisch-polnischen Union noch im russischen Zarenreich. Mancherorts wurde Roma-Gemeinschaften eine Selbstverwaltung mit eigenen Gerichten zugestanden.

Der letzte Tabor (Mosfilm 1935)
Plakat des Tonspielfilms »Der letzte Tabor« (Mosfilm 1935). Der Film pries den Willen der Rom:nja zur Integration in die Kolchoseordnung.


Sesshafte Rom:nja waren meist als Bauern, Handwerker und Händler tätig. Einige genossen im Zarenreich außerordentliche Popularität und stiegen in privilegierte Schichten an den Höfen auf. Roma-Chöre übten in den Städten einen erheblichen Einfluss auf die russische Kultur aus.


Zahlreiche Rom:nja (auf dem Gebiet des heutigen Belarus die große Mehrheit) lebten bis unmittelbar vor dem Einmarsch der Wehrmacht seminomadisch. In der warmen Jahreszeit boten Gruppen von bis zu 50 Personen (sog. Tabors) in Dörfern und auf Märkten Waren und Dienstleistungen an. Pferdehandel und -zucht, Schmiedearbeiten und Tischlerei waren weit verbreitete Tätigkeiten seminomadischer Rom:nja. In der kalten Jahreszeit nahmen Rom:nja Quartier in Dörfern, arbeiteten auf den Höfen mit, beteiligten sich an religiösen Festen. Ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft umfasste dann neben wirtschaftlichen auch intensive kulturelle und zwischenmenschliche Beziehungen. Trotz verbreiteter gegenseitiger Stereotype und Vorurteile waren Mischehen keine Seltenheit; örtliche Bauern wurden Taufpaten für Roma-Kinder, slawische Waisen von Roma-Familien adoptiert.


Die konkrete Ausprägung dieses Verhältnisses konnte sich während der deutschen Besatzung als überlebenswichtig herausstellen.

Roma bei der Feldarbeit auf dem Mähdrescher
Roma bei der Feldarbeit auf dem Mähdrescher
Romaschule
Romaschule
Eine Gruppe von Rom:nja besucht Alphabetisierungskurse in Charkiw, 1934. Quelle: Zentralstaatliches Film-, Foto- und Tonarchiv der Ukraine G. S. Pschenytschnyi

Maßnahmen der Sowjetmacht


Maßnahmen der Sowjetmacht insbesondere ab Mitte der 1920er Jahre brachten erhebliche Änderungen für das Leben der Rom:nja mit sich. So sollten seminomadische Rom:nja „in ein sesshaftes Arbeitsleben“ überführt werden, wozu industrielle Genossenschaften und Kolchosen speziell für Rom:nja gegründet wurden. Der Erfolg der Roma-Kolchosen begrenzte sich allerdings auf jene Gebiete, in denen Rom:nja schon zuvor als Landarbeiter oder Bäuerinnen gelebt hatten, mit Schwerpunkt im westlichen Russland.


Dennoch hatte die Entstehung großer Kolchosen und Industrieanlagen negative Auswirkungen auf die traditionelle Lebensweise seminomadischer Rom:nja, weil sie die Nachfrage nach ihrem Dienstleistungs- und Handelsangebot verringerte. Zugleich litten etwa Schmiede unter dem allgegenwärtigen Rohstoffmangel.

»Newo Drom« (Neuer Weg), 1930
Titelbild der romanessprachigen Zeitschrift »Newo Drom« (Neuer Weg), 1930. Ein erheblicher Teil der Zeitschrift bestand aus der Übersetzung von Propagandaartikeln aus dem Russischen ins kyrillische Romanes. Die Publikation romanessprachiger Literatur wurde 1939 eingestellt.

Ab Mitte der 1920er Jahre wurden auch gezielte Maßnahmen zur Stärkung der Roma-Kultur ergriffen, wie etwa die Gründung von Roma-Organisationen und speziellen Schulen und Kindergärten für Rom:nja, die Entwicklung eines kyrillischen Romanes-Alphabets und die Herausgabe von Schulbüchern und Zeitschriften in Romanes. Diese „leninistische“ Nationalitätenpolitik wurde 1938 wieder beendet. Das 1931 in Moskau gegründete Roma-Theater „Romen“ blieb jedoch bestehen und existiert noch heute.


Die Stalinschen Repressionen der 1930er Jahre trafen auch Rom:nja. Vermögende wurden als „Kulaken“ enteignet, Tausende als „Landstreicher“ oder „Spione“ deportiert. Diese Erfahrungen motivierten einige Rom:nja wiederum dazu, von der Sesshaftigkeit in ein nomadisches Leben zu wechseln.

Wie viele Rom:nja vor dem Einmarsch der Wehrmacht im Gebiet der Sowjetunion lebten, kann nicht seriös geschätzt werden.


Wie viele Rom:nja am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in den später deutsch besetzten Gebieten lebten, kann nicht exakt beziffert werden. Bei der Volkszählung im Januar 1939 wurden in der Belarusischen Sowjetrepublik 3632 Roma erfasst, in der Ukrainischen 10443, in der Russischen 61662. Manche Rom:nja hatten sich aber mit ukrainischer, russischer oder anderer Zugehörigkeit registrieren lassen. Zudem ist die Anzahl der Rom:nja in den ostpolnischen Gebieten, die im September 1939 der Sowjetunion angegliedert wurden, unbekannt.

Roma-Kolchose „Nowa Drom“
Roma-Kolchose „Nowa Drom“: Eine Romni am Steuer eines Traktors, 1936 (Russland) Quelle: Staatliches zentrales Museum für zeitgenössische Geschichte Russlands


Generell waren und sind Rom:nja auch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion keine homogene kulturelle Gruppe, sondern weisen erhebliche Unterschiede in Tradition, Sprache und Lebensführung auf.

Bilder aus dem Familienalbum von Halina Kiritschenko

Familie von Halina Kiritschenko auf einer Aufnahme von vor 1935: Großvater (in der Mitte), Großmutter (2. von rechts), Mutter (ganz rechts).
Familie von Halina Kiritschenko auf einer Aufnahme von vor 1935: Großvater (in der Mitte), Großmutter (2. von rechts), Mutter (ganz rechts).
Aus dem Familienalbum von Halina Kiritschenko. Aufnahme aus der Vorkriegszeit.
Aus dem Familienalbum von Halina Kiritschenko. Aufnahme aus der Vorkriegszeit.
Tabor der Familie von Halina Kiritschenko. Aufnahme aus der Vorkriegszeit.
Tabor der Familie von Halina Kiritschenko. Aufnahme aus der Vorkriegszeit.