Überlebensstrategien und Widerstand
Zeitzeug:innen
Hintergründe
Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze
Projekt
Im Rahmen unserer Recherche zeigten uns die Interviewpartner:innen mehrfach Fotos von Familienangehörigen, die in der Roten Armee oder, wie hier, in Partisaneneinheiten gekämpft hatten.
Hier abgebildet: Ljubow Konstantinowna Iwanowitsch, geb. 1920. Für ihre Tätigkeit als Kundschafterin wurde sie mehrfach ausgezeichnet und hatte einige Auftritte im Fernsehen.
Sie nahm regelmäßig an den Paraden zum Tag des Sieges teil.
Die Gefahr, die von den Deutschen ausging, wurde den meisten Rom:nja erst bewusst, nachdem sie erste Berichte über Massenerschießungen gehört hatten. Die beiden wichtigsten Strategien für das Überleben waren: Sich in Wäldern und Sümpfen zu verbergen, weil sich deutsche Einheiten nur selten dort hineinwagten, oder in den Dörfern und Städten bleiben und versuchen, für die Besatzer „unsichtbar“ zu sein.

Quelle Foto: J. Davidson. Nationales Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg.

Eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das Überleben von Rom:nja hatten die sowjetischen Partisanenverbände. Vor allem in Belarus und der Ukraine gab es größere Gebiete, die faktisch von bewaffneten Widerstandskämpfer:innen kontrolliert wurden. Die Mehrzahl unserer über 150 Interviewpartner:innen berichtete, dass ihre Vorfahren sich den Partisan:innen angeschlossen hatten. Wer nicht selbst mit der Waffe in der Hand kämpfte, fand Unterschlupf in Familienlagern in der Nähe der Partisan:innen, die sie warnten, wenn die Deutschen heranrückten.
Die Beschaffung von Lebensmitteln für Partisan:innen und Familienlager oblag häufig Frauen. Man ging davon aus, dass kleine Gruppen von Frauen in den Dörfern weniger Aufsehen erregten. Dabei bestand jederzeit die Gefahr, einer Streife der Besatzer oder deren Hilfspolizei in die Hände zu fallen, oder von einheimischen Kollaborateuren verraten zu werden.
Auch als Kundschafter:innen wurden häufig Frauen eingesetzt. Mehrfach haben wir von Romnja gehört, die als Wahrsagerinnen von Haus zu Haus gingen und das Vertrauen der örtlichen Bevölkerung gewannen.
Mitunter sprachen diese Romni gezielt Ehefrauen örtlicher Polizisten an. Dabei gewannen sie auch Informationen darüber, wo es deutsche Truppen gab, welchen Personen – auch welchen Polizisten – man trauen konnte oder welche für die Besatzer arbeiteten, und welche Orte man meiden musste. Diese Informationen wurden dann an die Partisan:innen weitergegeben. Auch beim Transport von Waffen – versteckt unter Brennholz oder Lebensmitteln – spielten Romnja eine wichtige Rolle.




Andere Rom:nja blieben in ihren Heimatdörfern oder den Dörfern von Verwandten. Dort mussten sie versuchen, von den Deutschen nicht als Rom:nja erkannt zu werden. Ob das gelang, hing von mehreren Faktoren ab. Wohl am wichtigsten war dabei, wie die Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft waren. Je vertrauter die Rom:nja mit dem jeweiligen Dorf waren, desto größer waren ihre Überlebenschancen. Denn für die Durchführung des Genozids waren die Deutschen auf die Mitwirkung der örtlichen Bevölkerung angewiesen – auf Denunziation von Nachbarn, auf die Übermittlung von Listen durch Dorfverwaltungen, auf die Ortskenntnis von Polizisten.

Foto von 1935 mit Freundinnen aus dem Dorf Hnidyn, Kiewer Oblast. Links die Romni Marusya Nalivajko, rechts eine Ukrainerin. Helle Haut, Kenntnisse der ukrainischen Sprache und Tragen ortsüblicher Kleidung erwiesen sich mitunter als Mittel zum überleben.
Quelle: Privatarchiv von Volodymyr Solotarenko
Überlebende berichten häufig von Bäuerinnen und Bauern, die die Rom:nja in ihrer Nähe vor heranrückenden deutschen Einheiten warnten oder einzelne Rom:nja bei sich beherbergten. Die Verwaltungen von Dörfern und Kolchosen entschieden sich häufig dafür, Anfragen der Deutschen über den Aufenthaltsort von Rom:nja negativ zu beantworten. Bisweilen wurde Rom:nja auch offiziell bescheinigt, Russen, Belarusen oder Ukrainer zu sein. Dabei spielte es manchmal auch eine Rolle, ob die Rom:nja spezielle Fertigkeiten wie etwa als Schmiede besaßen, die für die Dorfgemeinschaft unersetzlich waren. Es kam auch vor, dass ortsansässige Polizisten bei Razzien jene Rom:nja verschonten, die ihnen persönlich bekannt waren. Auch Bestechung konnte eine Rolle spielen. Trotz allem mussten die Rom:nja auch in solchen Fällen stets fürchten, von einzelnen Kollaborateuren an die Deutschen verraten zu werden. Es kam auch vor, dass Bäuerinnen und Bauern die Verstecke von Rom:nja verrieten. Sie hofften damit, die aus Not heraus stattfindenden Diebstähle von Lebensmitteln und Tieren zu vermindern.
Eine weitere Möglichkeit, quasi „unter dem Radar“ der Deutschen zu bleiben, hatten jene Rom:nja, die offiziell nicht als solche registriert waren. In sowjetischen Dokumenten jener Zeit – Ausweise, Arbeitspapiere, Geburtsurkunden – war stets die ethnische Zugehörigkeit vermerkt. Wie viele Rom:nja damals überhaupt solche Dokumente hatten, ist nicht bekannt. Aber insbesondere Rom:nja, die aus einer „Mischehe“ hervorgingen, waren häufig als „russisch“, „ukrainisch“ oder mit einer anderen Herkunft erfasst. Das konnte im Einzelfall das Leben retten.
In anderen Fällen gelang es Rom:nja auch ohne Papiere, sich den Deutschen gegenüber als Nicht-Roma darzustellen: Eine helle Haut, helle Augen oder helle Haarfarbe wurde von den Deutschen häufig als Hinweis auf eine „russische“ Herkunft gedeutet.
