„Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen“?

Über die Erinnerung in Belarus, Russland und der Ukraine

Unter den Rom:nja in der Ukraine, in Belarus und in Russland ist die Erinnerung an den Genozid bis heute lebendig. Viele junge Leute wissen darüber Bescheid, wie ihre Großeltern und Urgroßeltern gelitten und gekämpft haben. Familien kommen an Jahrestagen wie etwa dem Internationalen Roma-Tag am 8. April zusammen, um zu gedenken. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Familien nicht nur Trauer und Leid angesichts des Horrors der deutschen Verbrechen empfinden, sondern auch Stolz darüber, dass ihre Vorfahren häufig aktiven Widerstand geleistet haben.

Doch auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft ist erst in den letzten Jahren ein langsam wachsendes Interesse an diesem Thema festzustellen. In allen drei Ländern wirkt, unterschiedlich stark, das Erbe der sowjetischen Geschichtspolitik nach. Historische Forschungen stehen noch ganz am Anfang. Stätten von Massenerschießungen wurden nur äußerst selten markiert, und dementsprechend gibt es kaum Denkmäler. In Sowjetzeiten wurden die Ermordeten summarisch als „friedliche sowjetische Bürger“ bezeichnet, selbst wenn es sich überwiegend um Rom:nja gehandelt hat. Gleiches galt für jüdische Opfer.

Damit werden Rom:nja zwar als NS-Opfer gewürdigt und ihre Zugehörigkeit zur Nation bekräftigt – ganz anders als in der frühen Bundesrepublik. Der rassistische Charakter der deutschen Verbrechen wird auf diese Weise jedoch ignoriert. Viele Rom:nja wie Nicht-Rom:nja denken, die Deutschen hätten Rom:nja ermordet, weil sie diese für Partisanen oder für arbeitsunwillig gehalten hätten. Damit wird den Rom:nja tendenziell eine Mitverantwortung an ihrer Ermordung zugeschrieben. Das eigentliche Motiv der Deutschen, ihr „rassebiologischer“ Hass auf Rom:nja, wird häufig verkannt.

Politische Initiativen zur Memorialisierung des Roma-Genozids gehen weder von der ukrainischen, noch russischen oder belarusischen Regierung aus, auch wenn das ukrainische Parlament im Jahr 2004 den 2. August als Gedenktag für die Opfer des Roma-Holocausts festgelegt hat. In der Ukraine gibt es allerdings eine größere Vielfalt an Akteuren, wie etwa politisch aktive Roma-Selbstorganisationen, oder unabhängige Holocaust-Forschungsinstitute. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit finanzkräftigen ausländischen Regierungen oder Stiftungen. Die größere Offenheit für dieses Thema spiegelt sich in der Zahl der Denkmäler: Laut dem Historiker Mikhail Tyaglyy gab es Ende 2024 26 Denkmäler an Massenerschießungsorten von Rom:nja, von denen 12 ausdrücklich Rom:nja als Opfergruppe benennen. Dem stehen 180 bislang bekannte Massenvernichtungsorte gegenüber.

In Belarus und in Russland hingegen sind der Zusammenarbeit mit ausländischen Akteuren enge Grenzen gesetzt, schon wegen der Gefahr, dass die inländischen Partner als „ausländische Agenten“ eingestuft werden. Zudem erschweren die innenpolitischen Repressionen jegliches staatsferne politische Engagement. In beiden Ländern dominiert weiterhin, bzw. erneut, das sowjetische Narrativ, sowie der Versuch, die Weltkriegsgeschichte für politische Gegenwartsziele zu instrumentalisieren.

In Russland hat es bislang keine systematische Erforschung des Roma-Genozids gegeben, der Forschungsstand geht kaum über die – durchaus wertvollen – Veröffentlichungen des Künstlers und Publizisten Nikolai Bessonow hinaus, der auch Zeitzeug:innen befragt hatte. Seit seinem Tod im Jahr 2017 ist die Forschung praktisch zum Erliegen gekommen. In Schulbüchern wird der Roma-Genozid nicht mit einem Wort erwähnt. Neben dem Denkmal in Alexandrowka gibt es nur wenige, von lokalen Aktivist:innen initiierte Erinnerungsorte; staatlich oder nichtstaatliche Erinnerungsprojekte sind uns (Stand 2024) nicht bekannt.

In Belarus ist die Rolle von Regierungsbehörden widersprüchlicher: Der Roma-Genozid wird offiziell als Teil des „Genozids am belarusischen Volk“ gesehen, womit sein spezifischer NS-Hintergrund weiterhin ausgeblendet wird. Seit 2022 haben Generalstaatsanwaltschaft und lokale Behörden zahlreiche neue Massengräber identifiziert und markiert, darunter vereinzelt auch Gräber von Rom:nja. Zugleich versucht der Staat die Deutungshoheit über die Geschichte zu erlangen: An Tausenden von Weltkriegsdenkmälern wurden ab 2022 Tafeln mit QR-Codes staatsnaher Organisationen aufgestellt. Die zugehörigen Homepages beschwören den Kampf eines einigen belarusischen Volkes gegen fremde Eindringlinge. Unverhohlen wird dabei die demokratische Opposition gegen die Lukaschenko-Regierung in die Tradition faschistischer Kollaborateure gestellt.

Ermutigend ist allerdings, dass es unserem Projektpartner, der Belarusischen Roma-Diaspora, seit 2020 möglich war, die Ausstellung über den Genozid in mehr als 20 Städten zu zeigen und dafür öffentliche Orte wie Museen, Bibliotheken und (Hoch-)Schulen zu nutzen. Häufig werden Schulklassen durch die Ausstellung geführt, an einigen Schulen wird Lehrmaterial eingesetzt, das von der Belarusischen Roma-Diaspora und der Geschichtswerkstatt Minsk verbreitet wird.

Beispiele für Erinnerung – Ukraine

Babij Jar, 2016, Denkmal für die ermordeten Roma, Stiftung Denkmal.
Am 23. September 2016 wurde in BabynJar (Kiew) dieses Denkmal mit dem Titel „Roma-Wagen“ errichtet. Es erinnert an die während der deutschen Besetzung ermordeten Rom:nja Kiews. (Foto: Mikhail Tyaglyy)

Im Rahmen des Projektes „Protecting Memory“ von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europa wurden im Juni 2019 Denkmäler für ermordete Roma in Divoshin, Kalynivka und Iwanopil im Oblast Schytomyr errichtet.

Denkmal Eröffnung in Kalynivka
Im heutigen Kalynivka, damals Holyschi genannt, ermordeten Angehörige einer deutschen Einheit 32 Roma – Kinder, Frauen und Männer – in einer Scheune. Ihre Namen sind unbekannt.
Denkmal im Dorf Divoshin
Mindestens 80 Roma wurden am Rande des Dorfes Divoshin im Spätsommer oder im Herbst 1942 ermordet.

Erinnerungsort in Lubny


„Hier wurden Kartoffeln auf Menschenknochen angebaut“

1941 und 1942 fanden beim Dorf Wilschanka bei Lubny mindestens zwei Massaker an Roma statt.

Oleksandr Karpenko, Geschichtslehrer (im Bild unten), und Serhij Timoschenko (im Bild links), Mitglied der Roma-Hundertschaft eines Kosakenvereines in Lubny, haben Berichte von Augenzeugen über die Massenerschießungen gesammelt.

Im September 2011 organisierten sie eine Ausgrabung: „Wir fanden hier zwei menschliche Schädel, einen großen und einen kleinen, und einen Hüftknochen“, so Oleksandr Karpenko. Beide betonen, dass die Behörden die Tragödie verschwiegen, obwohl die alten Dorfbewohner all dies wussten. Sie errichteten ein Kreuz, um an das Verbrechen zu erinnern. Ein orthodoxer Priester weihte die Gedenkstätte ein.

„Wir haben es eingezäunt, damit die Leute wenigstens hierher kommen und Blumen legen können. Hier wurden ja Kartoffeln auf Menschenknochen angebaut und dann gegessen. Das ist doch undenkbar“, sagt Serhij Timoschenko. Vertreter der Behörden nahmen an der Gedenkfeier nicht teil.

Erinnerungsort Lubny

Beispiel für Erinnerung – Russland

Beispiele für Erinnerung – Belarus

Dieses Denkmal ist eines der wenigen in Weißrussland, das sie als einzelne Opfergruppe erwähnt.

Denkmal für die ermordeten Rom:nja des Zwangsarbeiterlagers Kolditschewo, Bezirk Baranowitschi. Das Kreuz wurde 2008 in einem Waldstück unweit des ehemaligen Lagers errichtet und gehört zu den wenigen in Belarus, die ausdrücklich Rom:nja als Opfergruppe ansprechen. Es ist auf Romanes und Belarussisch gehalten.

Vorsitzende Olga Iwanowna Netschajewa und ihr Mann Nikolaj Anufriew
Am Roma-Day 2019 weihte der Verein Romano Drom in Gomel (auf dem Bild: Vorsitzende Olga Iwanowna Netschajewa und ihr Mann Nikolaj Anufriew) eine Gedenkallee ein. Aufschrift: »In Erinnerung an die Roma, die Opfer des Genozids wurden«.
Das Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk.
Das Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk. Es folgt weitgehend noch sowjetischen Leitmotiven, öffnet sich aber zaghaft auch einem breiteren thematischen Ansatz, wie der Thematisierung des Holocaust. Im Oktober 2020 wurde hier die belarussische Variante dieser Ausstellung eröffnet.

Beispiel für Erinnerung – Moldau

Zerstörtes Denkmal zur Erinnerung an die Deportationen von Rom:nja aus Chisinau. Pläne zu einem Wiederaufbau sind nicht bekannt.
Zerstörtes Denkmal zur Erinnerung an die Deportationen von Rom:nja aus Chisinau. Pläne zu einem Wiederaufbau sind nicht bekannt.