Genozid an Rom:nja in der besetzten Sowjetunion: tausende Morde…
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Hintergründe
Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze
Projekt
Die deutschen Besatzer haben während des Zweiten Weltkrieges mehrere Zehntausend Rom:nja auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion ermordet.
Ob in den baltischen Staaten, Belarus, der Ukraine oder in den besetzten Teilen Russlands, ob unter Kontrolle der Wehrmacht oder von „Zivilverwaltungen“ – in allen Besatzungszonen wurden Befehle zur rücksichtslosen Verfolgung der Rom:nja erlassen.
Einige dieser Befehle sahen ausdrücklich die Ermordung nomadisch lebender Rom:nja vor, während sesshafte Rom:nja „lediglich“ unter besondere Aufsicht gestellt, zur Zwangsarbeit herangezogen und/oder interniert werden sollten. Ein Beispiel hierfür ist die Anordnung der Heeresgruppe Nord vom 21. 11. 1941, „herumziehende Zigeuner dem nächsten Einsatzkommando des SD zuzuführen“ (sie also ermorden zu lassen), „sesshafte Zigeuner, die bereits 2 Jahre an ihrem Aufenthaltsort“ wohnten und als „politisch und kriminell unverdächtig“ galten, dort zu „belassen“. Solche – mit vielen Vorbehalten versehene – Unterscheidungen standen allerdings meist nur auf dem Papier und hatten, wie der Historiker Martin Holler mit Sicht auf die von der Wehrmacht verwalteten Gebiete festgestellt hat, „keinen Einfluss auf die praktische ‚Zigeunerpolitik‘ vor Ort“. Aus allen Besatzungszonen sind Mordaktionen sowohl an nomadisch lebenden wie auch sesshaften Rom:nja überliefert, mal spontan, mal akribisch geplant.

Befehl des „Reichskommissars Ostlands“ (zuständig für die das Baltikum und große Teile von Belarus) Hinrich Lohse. Dieser Befehl nimmt, wie auch einige andere Befehle deutscher Dienststellen, eine Unterscheidung zwischen sesshaften und nomadischen („herumirrenden“) Rom:nja vor. Diese Unterscheidung stand in der Regel nur auf dem Papier. Der Historiker Martin Holler hat in seinen Forschungen festgestellt, dass die Frage der Sesshaftigkeit „in der Praxis des Völkermordes“ keine Rolle gespielt hat
Quelle: BArch B 162/936, Bl.
Der Genozid erfolgte in mehreren Etappen: In den ersten Monaten nach dem Überfall machten vor allem die Einsatzgruppen, die der Wehrmacht folgten, Jagd auf Rom:nja.
Die Einsatzgruppen waren der SS unterstellt und ermordeten neben Rom:nja insbesondere Juden und kommunistische Funktionäre. Manchmal beteiligten sich auch Einheiten der Wehrmacht daran.Die ersten Morde durch die Einsatzgruppen (bestehend aus dem Sicherheitsdienst der SS und Polizeiangehörigen) sind für Spätsommer 1941 nachgewiesen. Aber auch Einheiten der Wehrmacht begannen im Herbst 1941 damit, Rom:nja zu erschießen oder sie den Einsatzgruppen zu überstellen.
Der Überfall auf die Sowjetunion erfolgte im Sommer, als zahlreiche Rom:nja-Gruppen (Tabors) unterwegs waren, um in den Dörfern Handel zu treiben und Dienstleistungen anzubieten, z. B. als Schmiede.
Wenn ein solcher Tabor angetroffen wurde, wurden sämtliche Angehörige, egal welchen Alters und Geschlechts, meist an Ort und Stelle erschossen – so wie es der Wehrmachtsbefehlshaber von „Weißruthenien“ am 10. Oktober 1941 verfügt hatte: „Zigeuner sind bei Aufgreifen sofort an Ort und Stelle zu erschießen.“ Sesshafte Rom:nja blieben in der Regel noch bis Anfang 1942 verschont.
Die zweite Etappe des Mordens war durch größere Systematik gekennzeichnet und betraf auch sesshafte Roma. Hierfür wurden sie zunächst registriert. Aus der Ukraine und den besetzten Teilen Russlands sind Dutzende von Aufforderungen an lokale Verwaltungen und Kolchosen überliefert, Listen zu erstellen, aus denen die Anzahl, Herkunft und eventuelle Besitztümer der im Ort lebenden Roma hervorgeht. Besonderen Mordeifer hatte die Einsatzgruppe D auf der Krim, wo die Roma in Städten wie Simferopol, Ewpatorija und Kertsch bereits im Herbst 1941 erfasst und kurz darauf ermordet wurden – bis auf jene, die sich als Krimtataren tarnen konnten. In den anderen Besatzungsgebieten wurden solche Maßnahmen im Frühjahr und Sommer 1942 durchgeführt. Die Besatzer waren hierbei auf die Kooperation der örtlichen Verwaltungen angewiesen – mancherorts behaupteten diese, es gebe keine Roma im Dorf, um sie zu schützen.
Das größte einzelne Massaker geschah im ukrainischen Tschernihiw: Dort forderte der deutsche Polizeichef die Roma auf, sich zur Vorbereitung einer angeblichen „Umsiedlung“ bei der Polizei zu melden. Im August 1942 wurden mehrere Hundert Roma – die Schätzungen reichen bis zu 2000 – innerhalb von drei Tagen an den Stadtrand geführt und dort erschossen. In Schytomyr und zahlreichen anderen Städten, in denen Roma wohnten, wurden die entsprechenden Straßenzüge mit Hilfe ortskundiger Polizisten durchkämmt und die angetroffenen Roma zur Erschießung geführt.

Befehl des Wehrmachtsbefehlshabers in »Weißruthenien« vom 24. 11. 1941, der Anordnungen bekräftigt, denen zufolge „die Juden vom flachen Lande verschwinden und auch die Zigeuner vernichtet“ werden sollen.
Quelle: ZSA Minsk, 378-i-698, Fol 32 f
Exemplarisch ist auch das Vorgehen der Deutschen im Fall des Dorfes Alexandrowka bei Smolensk (Russland). Dort wohnten sowohl Russen als auch Roma, die in der sog. „Roma-Kolchose“ namens „Stalinverfassung“ arbeiteten. Am 23. April 1942 befahlen die Deutschen der dortigen Buchhalterin, eine Aufstellung von Familien des Dorfes nach ethnischer Zugehörigkeit anzufertigen. Am Tag darauf drangen SS-Einheiten in die Häuser ein und trieben die Roma-Familien zu einem See, um sie dort zu erschießen. Einigen Roma gelang es im letzten Moment, der Erschießung zu entgehen, indem sie behaupteten, „Russen“ zu sein. Dabei zeigten sie vereinzelt Ausweise vor, aus denen ihre „russische“ Ethnizität hervorging. Die Deutschen veranlassten daraufhin eine weitere Kontrolle getreu der Nazi-Ideologie, dass „rassische“ Identität anhand körperlicher Merkmale festgestellt werden könne: Wer helle Augen oder eine helle Haut- oder Haarfarbe hatte, hatte Chancen, als „Russe“ durchzugehen und freigelassen zu werden. 176 Roma wurden jedoch ermordet.
Die dritte Etappe des Genozids erstreckte sich bis zur Befreiung der besetzten Gebiete durch die Rote Armee und war von weiteren Mordaktionen an sesshaften wie auch nomadischen Roma gekennzeichnet. Die Anordnungen kamen stets von deutschen Dienststellen, die unmittelbaren Täter aus Wehrmacht, Einsatzgruppen, Sicherheits- und Ordnungspolizei, einheimischen Polizeikräften oder baltischen Kollaborationseinheiten.
Parallelen zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sind unübersehbar. Der Ermordung beider Opfergruppen ging häufig eine amtliche Registrierung voraus, die mit einer „Umsiedlung“, einer Arbeitszuweisung oder Lebensmittelverteilung begründet wurde. In der Regel wurden Roma einige Monate nach den jüdischen Bewohnern ermordet, mancherorts aber auch gleichzeitig oder gar vor den Juden.
Oftmals behaupteten die Täter, dass die Roma als „Spione“ oder „Partisanen“ tätig gewesen seien und ihre Ermordung „sicherheitspolizeilichen“ Erwägungen folgte. Tatsächlich haben viele Roma die Partisanen unterstützt, sei es als Kämpfer:innen, Kundschafter:innen oder durch Bereitstellung von Unterkunft und Lebensmitteln. Allerdings haben die Deutschen bei der Ermordung ganzer Siedlungen sesshafter Roma solche Vorwürfe gar nicht erst formuliert. Die Masse der Ermordeten war völlig unverdächtig, und auch Babys und Greise wurden nicht verschont.

Dieses Foto stammt von einem deutschen Wehrmachtsangehörigen und trägt auf der Rückseite die Beschriftung: „Zigeuner vor der Erschießung Herbst 1942“. Tatort ist vermutlich die besetzte Ukraine.
Quelle: Staatliches Archiv der Russischen Föderation
Der wahre Grund für den Völkermord war die „rassenideologische“ Auffassung, dass Roma ein „minderwertiges“ und „schädliches“ Volk seien. Dies hatten auch die sowjetischen Untersuchungskommissionen erkannt, die wiederholt konstatierten, dass „die nationale Herkunft“ der Erschossenen „der einzige Grund“ für ihre Ermordung war. (am Beispiel eines Massakers in der Oblast Pskov).
Die rassistische Motivation der Täter erklärt womöglich auch, warum die Morde, wie von Zeugen berichtet, häufig mit großer Brutalität insbesondere gegenüber Frauen und Babys sowie demütigenden Maßnahmen vor sich gingen. Mehrfach wird berichtet, dass die Deutschen die Roma zwangen, unmittelbar vor ihrer Ermordung zu tanzen und zu singen – offenbar ging es nicht nur um die physische Ermordung der Roma, sondern auch um die Auslöschung einer ganzen Kultur.
Die genauen Opferzahlen sind bis heute nicht bekannt – die Deutschen haben Morde an Roma nur lückenhaft dokumentiert oder als „Bandenverfolgung“ usw. kaschiert, und die sowjetischen Untersuchungsberichte der Nachkriegszeit harren noch ihrer vollständigen Auswertung. Der ukrainische Historiker Mikhail Tyaglyy geht davon aus, dass in den deutsch besetzten Gebieten von Belarus, der Ukraine und Russland ungefähr 30.000 Roma ermordet wurden, davon alleine in der Ukraine 13.000. Für Belarus geht Christian Gerlach von einer Mindestzahl von 3000 Ermordeten aus. (Für Russland sind uns keine separaten Zahlen bekannt). In den baltischen Staaten wurden ebenfalls mehrere Tausend Roma, mutmaßlich über die Hälfte aller bei Kriegsbeginn dort lebenden, umgebracht.
Anordnung des (deutschen) Präsidenten der Sicherheitspolizei von Tschernihiw (Ukraine) vom 10. Juni 1942

Quelle: Nationales Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, Kyjiw
Erinnerungen jüdischer Überlebender an ein Massaker an rund 100 Rom:nja in Glubokie, Dezember 1941
»Die Roma in der Umgebung litten genauso wie die Juden. Nicht für irgendwelche Vergehen, sondern einfach nur, weil sie Roma waren. Sie wurden ebenfalls Ende 1941 vernichtet. Die örtliche Polizei fand sie in der Umgebung, in den benachbarten Wäldern und Dörfern, brachte sie in die Stadt und tötete sie.
Im Dezember 1941 brachten sie eine Gruppe von 100 Roma. Vor der Erschießung wurden sie nackt ausgezogen und mussten eine Zeitlang in der bitteren Kälte stehen. Ihre Kinder wurden nackt aufs Eis gesetzt. Sie liefen blau an. Ihre Gesichter erfroren, so dass sie nicht weinen konnten. Sie wurden ganz steif vor Kälte. Die meisten starben schon bald. Andere Kinder hielten länger durch, aber das verlängerte nur ihre Schmerzen.
Die Eltern der Kinder, vor allem die Mütter, schrien und jammerten, sie flehten das Todeskommando an, die Kinder zu erschießen, damit sie nicht länger ansehen mussten, wie sie nackt im Schnee liegen und leiden. Nachdem die Deutschen sich daran erfreut hatten, ihre Opfer zu verspotten, trieben sie die Roma in den Wald. Sie waren nackt und mussten ihre gefrorenen, toten Kinder mit sich ziehen. Dort, an den offenen Gruben, befahlen die Mörder ihnen zu singen, zu tanzen, zu springen, zu klatschen usw. Während sie so auftraten, wurden sie mit Peitschen geschlagen…«
Quelle: The Destruction of Globokie (Hlybokaye, Belarus). Translation of Khurbn Glubok / Eds. M. and Z. Rajak, Former residents’ association in Argentina. – Buenos Aires, 1956
